Sexueller Missbrauch:"Kinder können das Unnormale oft gar nicht erkennen"

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Eine Geste der Zuneigung oder ein Übergriff? Kinder sind häufig nicht in der Lage, dazwischen zu differenzieren. (Foto: dpa)

Was können Eltern tun, um ihre Kinder vor Missbrauch zu schützen? Und wie können sie eine offene Gesprächskultur schaffen, in der Kinder nicht verschweigen, was ihnen angetan wurde? Eine Kinderpsychiaterin gibt Ratschläge.

Interview von Ralf Wiegand

Der Missbrauchsfall von Lügde verstört viele Eltern. Sie fragen sich: Würden wir merken, wenn unser Kind Opfer eines Sexualstraftäters wird? Welche Schwächen die Täter ausnutzen und wie Eltern richtig mit ihren Kindern umgehen sollten, erklärt die Kinderpsychiaterin Renate Schepker.

SZ: Nach dem Fall auf dem Campingplatz in Lügde stellt sich wieder einmal die Frage, wie so etwas passieren kann. Frau Professor Schepker, haben Sie eine Antwort, gibt es ein Muster beim Missbrauch von Kindern, das einem immer wieder begegnet?

Renate Schepker: Die Täter suchen sich Kinder, die aus ganz unterschiedlichen Gründen missbrauchbar sind. Entweder wegen einer großen, ungestillten Vatersehnsucht oder aus einer ängstlich-unterwürfigen Grundhaltung heraus, es gibt da zahlreiche Konstellationen - behinderte Kinder zum Beispiel sind gefährdeter. Die Täter erfüllen andere Bedürfnisse der Kinder, sie sind ja oft einfühlsame Menschen, die sich vormachen, das Kind will das ja genauso wie sie selbst. Es ist eine eigene, pathologische Dynamik.

Welche Wirkung hat ein solches Täterverhalten auf die Kinder?

Es entsteht eine zweite Wirklichkeit. Das geht so weit, dass Kinder glauben, das sei normal, was mit ihnen geschieht. Die Täter versuchen, den Kindern einzureden, das würden alle machen. Das sei doch schön. Das Normalste von der Welt. Und dass man sich doch wirklich lieb habe. Das ist der Grund, warum Missbrauch vor allem im familiären Kontext jahrelang fortdauern kann: Kinder können das Unnormale daran oft gar nicht erkennen.

Was die Menschen nicht verstehen: Bei dem Fall in Lügde war eine große Zahl von Kindern über einen langen Zeitraum betroffen. Keiner der Eltern hat etwas bemerkt. Wie kann das sein?

Wir kennen diese Konstellation aus anderen Kontexten, von Kinderchören, von Pfadfindergemeinschaften, von Trainingsgruppen, in denen oft reihenweise Kinder von Erwachsenen missbraucht werden. Die Eltern schicken ihre Kinder ja gerne in diese Gemeinschaft. Oft reagieren die Eltern auf eine versteckte Botschaft der Kinder in der Art, dass sie mehr jetzt nicht hören wollen.

Zum Beispiel?

Wenn das Kind nach Hause kommt und sagt: Heute war es aber nicht so schön, die Eltern aber sagen: Eigentlich ist es doch schön dort, geh doch wieder hin, mach doch weiter. Anstatt an dieser Stelle nachzufragen, was denn heute Besonderes war. Das ist kein Vorwurf an die Eltern, so etwas passiert im Alltag. Kinder ziehen sich dann aber schnell in ein Schneckenhaus zurück.

Das kann die Aussage des Täters bestätigen, dass dem Kind ohnehin niemand glauben wird. Wie können Eltern dem vorbeugen?

Ich möchte als Elternteil wissen, wie der Tag meines Kindes war - egal was das Kind erlebt hat oder wo es war. Es ist ganz, ganz wichtig, dass Eltern Zeit haben, den Kindern zuzuhören und teilzuhaben an dem, was sie erlebt haben, auch wenn die Kinder alleine irgendwo hingehen. Die wichtigste Prävention ist eine offene Gesprächskultur und ein aktives Interesse der Eltern an dem, was die Kinder tun. Das zweite ist eine offene Gesprächskultur über alles, was mit Sexualität zu tun hat. Die Kinder müssen das Gefühl haben, dass es da keine Rede-Tabus gibt und dass man über alles reden kann. Außerdem ist eine frühe Aufklärung wichtig.

In welchem Alter sollte man die Kinder aufklären?

Sobald sie im Grundschulalter sind, sollten sie wissen, wo die Kinder herkommen und wozu Geschlechtsteile da sind. Es fängt im Kindergarten üblicherweise an, dass Kinder danach fragen. Leider erleben wir immer häufiger, dass Eltern sich da auf Kindergarten und Schule verlassen. Oder sie glauben, ihr Kind sei noch zu jung und sie wollen es lieber "in kindlicher Unschuld" halten, wie man sagt. Kinder bekommen so das Gefühl, dass es Tabuzonen gibt. Wenn dann ein Täter sagt, da redet man sowieso nicht drüber, kann das noch verstärkt werden.

Wie warne ich ein Kind vor Gefahren, ohne ihm Angst zu machen?

Man kann mit einem Kind schon darüber reden, dass es Leute gibt, die sich an Kindern vergreifen und die das für normal halten, ohne dass es normal ist. Dass man, wenn so etwas passiert, zu Hause darüber reden kann. Der Idealzustand ist, dass man das erst gar nicht betonen muss. Der Idealzustand ist, dass Kinder wissen, dass ihre Eltern ihnen ohnehin mehr glauben als jedem anderen Menschen. Ein Kind muss wissen, dass die Eltern es beschützen werden, vor allem, was die Welt Böses zu bieten hat. Eltern sollten ihre Kinder nicht in dem Glauben lassen, dass es keine bösen Menschen gäbe in der Welt. Kinder sollten ein großes Vertrauen in ihre Eltern entwickeln. Sie sollten sagen: Meine Eltern sind der Maßstab, ich kann sie alles fragen. Das ist bis zur Pubertät das Ideal, das allerdings in der Realität kein Elternpaar erreicht.

Warum nicht?

Eltern haben immer mal einen schlechten Tag, sie haben immer mal andere Sorgen und hören auch immer mal weg. Das ist normal. Aber das Grundvertrauen zu schaffen, ist wichtig. Wenn solche Übergriffe in der Umgebung passieren oder in der Zeitung stehen, kann man das zum Anlass nehmen, mit den Kindern darüber zu sprechen. Man braucht nicht mit dem "fremden Mann hinterm Busch" zu drohen oder dem Mann mit den Bonbons, mit dem man nicht mitgehen soll, das bringt nichts - denn es sind ja meistens gute Bekannte, die Täter werden. Da muss man ein bisschen tiefer gehen, damit das Kind versteht, dass kein Kind etwas mitmachen muss, was sich komisch anfühlt, egal wer das von ihm verlangt.

Was ist am wichtigsten, wenn Kinder Opfer geworden sind?

Es ist wichtig für Kinder, dass es eine Strafverfolgung gibt. Das ist das schärfste Mittel in unserer Gesellschaft, um zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Das Unrechtsbewusstsein wird bei den Kindern durch die Täter ja gezielt verwirrt. Es ist für Kinder gleichzeitig wichtig, dass sie sich nicht selbst die Schuld geben. Das passiert sehr oft. Da muss man in Gesprächen darauf abheben, dass es zwischen Kindern und Erwachsenen keine symmetrische Beziehung geben kann. Es ist immer der Erwachsene, der in der Machtposition ist, und es ist immer das Kind, dass ausgenutzt wird. Es kann keine Schuld haben.

Warum geben sich Kinder die Schuld?

Kinder wollen allen helfen, sie haben eine sehr nette Seite. Sie wollen, dass es allen gut geht und glauben, dafür verantwortlich zu sein. Sie geben sich zum Beispiel die Schuld, wenn sich die Eltern streiten, auch wenn sie gar nicht der Anlass sind. Wenn es um die Frage sexuellen Missbrauchs geht, muss man sie entlasten. Das kann auch dadurch passieren, dass Täter ihre Taten gestehen und umfassend aussagen.

Der Hauptverdächtige von Lügde schweigt allerdings.

Grundsätzlich liegt es in der Verantwortung von Tätern, die Kinder wenigstens danach durch eine Aussage zu entlasten und ihnen so zum Beispiel belastende Vernehmungen zu ersparen.

Prof. Renate Schepker war an der Gründung der ersten deutschen Trauma-Ambulanz in Ravensburg beteiligt. Inzwischen gibt es solche Einrichtungen in mehreren Städten in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Die Adresse der nächstgelegenen Traumaambulanz kann bei der Polizeidienstelle erfragt werden; Hilfe bietet außerdem die medizinische Kinderschutzhotline (www.kinderschutzhotline.de) unter der Nummer 0800 19 210 00. Sie ist rund um die Uhr besetzt.

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