Sexueller Missbrauch:Als die Beichtstühle Gitter bekamen

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Laut einem Bericht der katholischen Kirche haben in Deutschland von 1946 bis 2014 1670 katholische Geistliche 3677 meist männliche Minderjährige sexuell missbraucht. (Foto: Johannes Simon)

Wie weit reicht die Spur sexueller Gewalt durch katholische Geistliche zurück? Ein Gespräch mit dem Kirchenhistoriker Claus Arnold.

Interview von Philipp Bovermann

Die katholische Kirche will auf ihrem Anti-Missbrauchs-Gipfel die sexuellen Übergriffe aufarbeiten. Damit geht sie erstmals öffentlich ein Problem an, das so alt ist wie sie selbst. Denn Hinweise auf Kindesmissbrauch durchziehen ihre gesamte Geschichte, weiß Claus Arnold. Er lehrt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

SZ: Herr Arnold, ist sexueller Missbrauch in der Kirche ein modernes Phänomen?

Claus Arnold: Als das Christentum aufkam, in der Antike, hat sich die Kirche dafür eingesetzt, dass Kinder genauso heilig und unverfügbar sind wie Erwachsene. Und zwar alle Kinder, auch die von Sklaven. Deren Söhne und Töchter zu missbrauchen, sie sogar zu töten, war damals weder verboten noch sonderlich verpönt. Später gab es das Problem sexueller Übergriffe aber auch in mittelalterlichen Klöstern. Man kann das daran ablesen, dass die Orden versucht haben, den körperlichen Kontakt mit Knaben zu verhindern. Überall dort, wo Kinder der Kirche anvertraut wurden, waren Schutzvorschriften notwendig.

Wie sahen diese Vorschriften aus?

Zum Beispiel durften nur ältere Mönche den Schlafsaal der Kinder überwachen, die dort als "pueri oblati", also "dargebotene Knaben", zu Mönchen ausgebildet wurden. Der Begriff des Missbrauchs war damals noch unbekannt, aber die "Reinheit" der Kinder galt als vorbildlich und musste bewahrt werden. Das galt natürlich ebenso für die "Reinheit" der Mönche. Diejenigen, die sich an den Knaben vergangen hatten, mussten Bußstrafen leisten. Man kann aus der Existenz solcher Schutzvorschriften nicht ableiten, wie groß das Problem sexueller Übergriffe war. Aber es war auf jeden Fall da.

Claus Arnold von der Johannes Gutenberg Universität in Mainz (Foto: Peter Pulkowski, Johannes Gutenberg-Universität)

War sich die Kirche also schon damals dieses Problems bewusst?

Sie wusste, dass Menschen am Zölibat scheitern. Deshalb hat sich in späteren Zeiten die Inquisition stark für Sexualkontakte interessiert, die außerhalb der Ehe und damit auch außerhalb der Norm stattfanden, besonders im Kontext des Beichtsakraments. Priester konnten die Befragung nach sündigen Gedanken nutzen, um sexuelle Spannung in die Gespräche zu bringen. Der Beichtstuhl mit dem Gitter zwischen "Beichtvater" und "Beichtkind" wurde daher erfunden, um Berührungen zu verhindern. Wir nehmen die Inquisition heute immer als Ketzerjagd wahr. In Wirklichkeit war sie in der frühen Neuzeit eher eine innerkirchliche Polizei. Vor allem hat sie die religiöse Überhöhung missbräuchlicher Praktiken aufgedeckt.

Was heißt das konkret?

Wenn etwas als Mystik verklärt wurde, was eigentlich eine Beziehung sexueller Abhängigkeit war. Wenn angeblich göttliche Eingebungen genutzt wurden, um junge Nonnen körperlich gefügig zu machen. Man hat solche Fälle lange für Denunziationen gehalten. Aber heute muss man sagen, dass die Inquisition dahingehend wahrscheinlich oft ein gesundes Misstrauen hatte.

Ist das Bewusstsein für dieses Problem also an einem bestimmten Punkt der Geschichte wieder verloren gegangen?

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Eine bischöfliche Strafgewalt hat es immer gegeben. Wenn Priester den Zölibat gebrochen haben, sind sie in sogenannte Korrektionshäuser gekommen oder versetzt worden. Was sich verändert hat, ist, dass die Kirche seit der Französischen Revolution und vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals einer kritischen Öffentlichkeit gegenüberstand. Das hat wahrscheinlich die Tendenz befördert, diese Fälle stärker unter der Decke zu halten.

Wie hat diese kritische Öffentlichkeit die Kirche damals wahrgenommen?

In der liberalen Presse galten Klöster als Stätten der Unzucht. Um 1900 gab es in Italien zum Beispiel einen Fall, dass in einem kirchlichen Waisenhaus ein Teil der Kinder an Syphilis erkrankt ist. Da hat man sich natürlich gefragt: Wie geht denn das? Die sozialistischen Zeitungen haben knallharte Karikaturen gedruckt. Dagegen ist jede Kirchenkritik heute harmlos.

Wie hat diese öffentliche Beobachtung die Kirche verändert?

Der Priesternachwuchs wurde viel strenger ausgewählt. Die Aufklärung hat außerdem den Zölibat stark in Frage gestellt. Auch innerhalb der katholischen Kirche gab es Antizölibatsvereine. Von Mitte des 19. Jahrhunderts an kam als Gegenreaktion eine strengkirchliche Bewegung auf. In den folgenden 100 Jahren, bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, wurde der Zölibat vielleicht so streng durchgesetzt wie nie zuvor in der Kirchengeschichte.

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Glauben Sie, der Zölibat begünstigt das Entstehen von Missbrauch?

In der historischen Perspektive würde ich keine direkte Verbindung herstellen. Was man aber sagen muss: der Zölibat oder die Ehelosigkeit in Orden kann Leute besonders anziehen, die ihre eigene Sexualität nicht klären und zu einer reifen, verantwortlichen Sexualität kommen wollen. Deshalb spielt es eben doch eine gewisse Rolle, würde ich sagen. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch authentisch gelebt werden, ohne daran zu scheitern.

Wie bedeutsam ist aus Ihrer Sicht der aktuelle Gipfel im Vatikan für die Kirchengeschichte?

Kollegen haben die gegenwärtige Krise mit der Reformation verglichen. Das finde ich keinen sehr glücklichen Vergleich. Aber ich würde sagen, wir erleben eine der schärfsten Krisen der katholischen Kirche mindestens der letzten 200 Jahre. Viele Menschen haben das Gefühl, hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit geht es für die Kirche um alles. Sie muss jetzt sehr konkrete und wirksame Maßnahmen einleiten.

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