Geisteswissenschaften: "Viele Behauptungen wirken überheblich und nicht druckreif"

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"Wohin treibt die Bundesrepublik?" fragte Karl Jaspers (links). Geheimdienstchef Reinhard Gehlen (rechts) ließ seine Gesinnung überprüfen.

(Foto: AP, dpa)

Kaum ein Buch hat im Nachkriegsdeutschland mehr Aufsehen erregt als Karl Jaspers "Wohin treibt die Bundesrepublik?". Nach SZ-Recherchen missfiel es BND-Chef Reinhard Gehlen derart, dass er es prüfen ließ.

Von Willi Winkler

Im Frühjahr 1966 brachte der Philosoph Karl Jaspers, dessen Todestag sich an diesem Dienstag zum fünfzigsten Mal jährt, eine Streitschrift heraus, deren Titel noch heute leitartikelfähig ist: "Wohin treibt die Bundesrepublik?"

Jaspers sah eine "Parteienoligarchie" am Werk und Westdeutschland wegen einer möglichen Großen Koalition auf dem besten Weg zu einer Diktatur. Er rühmte das Grundgesetz, zweifelte aber schon an der Wahrheit seiner Prämisse, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe. Dafür beanspruchten die Parteien zu viel Macht. "Die Verfasser des Grundgesetzes", meinte Jaspers sarkastisch, "scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben." Frei nach Schiller gelte der Grundsatz: "Das Volk hat gewählt, das Volk kann gehen."

1966 wurde über Notstandsgesetze debattiert, mit denen sich im Ernstfall die parlamentarischen Rechte einschränken ließen, was nicht nur Jaspers an das vorige Regime erinnerte. Der Bundestag hatte über die drohende Verjährung der Nazi-Verbrechen debattiert, die von der FDP und einem Teil der CDU/CSU gefordert wurde. Im Militär, in der Justiz, an der Universität wirkten die alten Kräfte. "Dies Fortwirken der alten Nationalsozialisten ist ein Grundgebrechen der inneren Verfassung der Bundesrepublik."

Jaspers war im Dritten Reich zwangspensioniert und mit Veröffentlichungsverbot belegt worden; noch in den letzten Kriegswochen drohte ihm und seiner jüdischen Frau die Verschleppung in ein KZ. Sein Traktat "Die Schuldfrage" war eines der ersten Bücher, die nach der Kapitulation erschienen. 1948 nahm er einen Ruf nach Basel an, betrachtete sich aber weiter als Bundesbürger. Lange unterstützte er den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer, dann sah er in ihm die Ursache der Fehlentwicklung. "Wir haben noch nicht den Staat politischer Freiheit, den wir haben könnten. Adenauer hat ihn verhindert."

Jaspers forderte etwas Unerhörtes: eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit

Kaum ein politisches Buch hat in der alten Bundesrepublik mehr Aufsehen erregt. Innerhalb von zwei Wochen waren dreißigtausend Exemplare verkauft. "Ich könnte mir einbilden, dass jeder Deutsche, der Zeitungen liest, im Augenblick meinen Namen kennt", schrieb der Autor stolz an seine Schülerin Hannah Arendt. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Reinhard Gehlen, dem nicht allzu viel an politischer Freiheit lag, ließ Jaspers' Buch von einer "Sonderverbindung" prüfen, die sonst gegen eine Monatspauschale von zweihundert D-Mark die Neue Zürcher Zeitung auswertete oder einen Radiohändler aushorchte, der heimlich DDR-Rundfunk hörte. Jaspers hatte sich nämlich bereits 1960 verdächtig gemacht, weil er mit Verweis auf Auschwitz den Verzicht auf die Wiedervereinigung gefordert hatte.

Das zweiseitige Gutachten ist nie veröffentlicht worden. Es findet sich in dem privaten Gehlen-Nachlass, der an die Süddeutsche Zeitung gelangt ist. Der anonyme Autor weiß, was er seinem Auftraggeber schuldig ist, und kritisiert, dass dem Spiegel und seinem Herausgeber Rudolf Augstein "große Sympathien geschenkt" werden, dass Karl Jaspers den "Nazistaat" als "Verbrecherstaat" bezeichnet haben will, sich gegen die Verjährung der NS-Morde wendet und die Nürnberger Prozesse für rechtmäßig hält.

Streberhaft zitiert der Gutachter Sätze, von denen er glaubt, dass sie seinem Auftraggeber missfallen und kommt zu dem Schluss: "Viele Behauptungen wirken überheblich und nicht druckreif. Geradezu grotesk sind die Verherrlichungen Kennedys neben den beschämenden Worten zu Adenauers Politik. Die Bemerkungen zum Osten und Kommunismus beweisen ein geringes Einschätzen der Materie. Oder warum hat Jaspers Grund dazu diesen Feind so leicht zu nehmen?"

Der Feind, daran gab es für Gehlen und seinen Mitarbeiter keinen Zweifel, stand im Osten und bedrohte die Republik. Der 83-jährige Jaspers wagte es, an dieser Bedrohung zu zweifeln, schlimmer noch: er forderte eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Als Ende 1966 das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger von einer Großen Koalition zum Bundeskanzler gewählt wurde, sah Jaspers seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt und wurde Schweizer Staatsbürger. Seine Polemik war monatelang ein Bestseller und verkaufte sich fast doppelt so gut wie Adenauers gleichzeitig erschienene Memoiren. Hannah Arendts Ehemann Heinrich Blücher bezeichnete "Wohin treibt die Bundesrepublik?" als "das mutigste Buch, das je ein Deutscher über Deutschland geschrieben hat".

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