Europäische Museen:Die verdrängte Debatte

Europäische Museen: Bronzeplatten aus dem ehemaligen Königreich Benin im heutigen Nigeria sind über viele europäische Museen verstreut. Dieser Krieger ist im Museum für Völkerkunde in Leiden in den Niederlanden zu sehen.

Bronzeplatten aus dem ehemaligen Königreich Benin im heutigen Nigeria sind über viele europäische Museen verstreut. Dieser Krieger ist im Museum für Völkerkunde in Leiden in den Niederlanden zu sehen.

(Foto: mauritius images)

Schon vor vierzig Jahren diskutierte Europa über die Restitution kolonialer Sammlungsbestände. Seitdem hat sich in der Debatte zu wenig getan.

Gastbeitrag von Bénédicte Savoy

Im Jahr 1979 begann unsere Gegenwart", schreibt der Historiker Frank Bösch in seinem jüngst erschienenen Buch "Zeitenwende 1979". Damals häuften sich in allen Regionen der Welt Ereignisse von globaler Bedeutung, die neue Paradigmen schufen, tiefgreifende Transformationen einleiteten und auf die heutige Zeit verweisen. Das gilt auch für die uns heute so neu vorkommende Frage der Restitution außereuropäischer Kulturgüter. Auch hier begann schon damals unsere Gegenwart, aber sie verlief bald darauf im Sand und wurde vergessen, oder besser gesagt: erfolgreich vergessen gemacht.

Das ist vielleicht die wichtigste Lektion aus der Arbeit, die ich im vergangenen Jahr mit Felwine Sarr im Auftrag von Emmanuel Macron durchgeführt habe. Wir gewannen nicht nur grundlegende Erkenntnisse in Afrika selbst. Wir entdeckten auch in Paris und Berlin ganze Aktenkonvolute in Verwaltungs- und Pressearchiven, aus denen hervorgeht, dass die Debatte um kolonialzeitliche Sammlungen in europäischen Museen schon einmal ausführlich stattgefunden hat, vier Jahre lang, zwischen 1978 und 1982, als wir Schulkinder waren.

Damals "strengten" in ganz Europa Politikerinnen und Politiker, Journalisten, Akademiker und Museumsleute "ihre Intelligenz an", wie es der Generalinspektor der staatlichen Museen in Frankreich, Pierre Quoniam, 1981 formulierte, um eine faire und zeitgemäße Haltung in Sachen Restitutionen zu finden. Die Dynamik war vom Generaldirektor der Unesco, dem Senegalesen Amadou Mahtar M'Bow, in Gang gesetzt worden. Er hatte im Juni 1978 in einem viel beachteten Appell für die "Restitution unersetzlicher Kulturgüter an ihre Schöpfer" plädiert, die Rolle der Kultur im Selbstfindungsprozess von Gesellschaften betont, sich für ein nicht nur westlich geprägtes Verständnis des Universalismus von Kunst eingesetzt und seine Forderung auf einige wenige Objekte beschränkt.

In Frankreich empfahl 1982 eine Expertenkommission Rückgaben als "Akt der Fairness"

Der Aufruf wurde breit rezipiert. Man sprach im Fernsehen darüber. Der Kunsthandel war irritiert. Einige Museumsgranden krächzten auch, wie Stephan Waetzoldt, Generaldirektor der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der 1979 in einem Spiegel-Interview befand, es sei "unverantwortlich, dem Nationalismus der Entwicklungsländer nachzugeben"; oder David Wilson, von 1977 bis 1992 Direktor des Britisch Museum in London, der rechtliche Argumente gegen das Rückgabeprojekt bemühte: "Alles, was wir besitzen, kam auf legalem Weg zu uns."

Der Nationalismus der anderen und das gute alte Recht: Das waren schon damals die Argumente, mit denen man versuchte, die Debatte zu verhindern. Doch die Regierungen verschiedener europäischer Länder ließen sich davon nicht beeindrucken und nahmen sich des Themas an.

In Frankreich kulminierten die offiziellen Anstrengungen 1981. Das Außenministerium berief eine hochkarätig besetzte Expertenkommission, die sich unter Leitung von Pierre Quoniam mit der Rückgabe von Kulturgütern aus französischen Museen speziell nach Afrika zu befassen hatte. Quoniam hatte als Archäologe während der französischen Protektoratszeit von 1948 bis 1954 das Bardo-Museum in Tunis geleitet und war von 1972 bis 1978 Direktor des Louvre gewesen. Im Sommer 1982 lag die Empfehlung seiner Kommission vor. Sie sprach sich unmissverständlich für Rückgaben aus, die sie als "Akt der Solidarität und der Fairness" bezeichnete.

Ebenfalls im Sommer 1982 sprach sich in Bonn die Grande Dame des deutschen Liberalismus, Hildegard Hamm-Brücher, damals Staatssekretärin im Auswärtigen Amt im Kabinett von Helmut Schmidt, für "Großzügigkeit bei der Rückgabe von Kulturgütern" aus. "Frau Hamm-Brücher sagte", schrieb die SZ am 10. August 1982, "diese Frage werde in den kommenden Jahren zu einem der Hauptthemen der kulturellen Beziehungen werden. Es sei durchaus denkbar, dass aus Anlass des 100. Jahrestages der Unterschreibung der Schutzverträge mit den ehemaligen deutschen Kolonien Togo und Kamerun in Afrika 1984 Kulturgüter zurückgegeben würden."

"Durchaus denkbar" ... Das war vor 37 Jahren. Damals hegte niemand Zweifel an der kolonialzeitlichen Herkunft einer überwältigenden Mehrheit außereuropäischer Bestände in europäischen Museen. In Paris war das "Musée des Colonies" zwar schon lange in "Musée des arts d'Afrique et d'Océanie" umbenannt worden. Doch es befand sich weiterhin im Palais der Kolonialausstellung von 1931 an der Porte Dorée, und jeder wusste, wie und wann die darin präsentierten Sammlungen zustande gekommen waren.

In Berlin hatte das Museum für Völkerkunde 1973 anlässlich seines hundertjährigen Bestehens eine mit Zahlen unterlegte Geschichte seiner Bestände publiziert, aus der hervorging, dass während der deutschen Kolonialzeit die Zahl der Sammlungsobjekte sprunghaft - was Afrika angeht: von rund 3500 (1880) auf 55 000 (1914) - angewachsen war und die Objekte vor allem aus den "Schutzgebieten" kamen. Man erfuhr darin auch, dass über 30 000 afrikanische Artefakte im Zweiten Weltkrieg verlorenen gegangen waren.

In dieser Zeit gingen selbst kleine Häuser offen mit ihren Sammlungsgeschichten um. Das städtische Museum in Braunschweig zum Beispiel, das gleich auf der zweiten Seite seines Katalogs der afrikanischen Sammlung von 1967 schrieb: "So liegen die Schwerpunkte der Abteilung naturgemäß geografisch bei den alten deutschen Kolonien (seit 1912 auch Indonesien), zeitlich in der Blütezeit des deutschen Kolonialismus, also zwischen 1890 und 1914; und es ist nicht verwunderlich, dass die afrikanische Sammlung ... im wesentlichen Objekte aus Kamerun, Togo, Tansania (dem einstigen Deutsch-Ostafrika) und Südwestafrika enthält."

Es war nicht verwunderlich, und man durfte damals offen darüber sprechen. Alle sprachen darüber, doch Rückgaben erfolgten nicht. Hildegard Hamm-Brücher verlor im Herbst 1982 ihr Amt. Die eindrucksvolle Rede, die sie am 1. Oktober 1982 zum damaligen Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt im Bundestag hielt, markierte in gewisser Hinsicht auch den Anfang unserer Gegenwart. Darin war vom Vertrauensschwund in die Politik die Rede, "vor allem bei der jüngeren Generation", von der Fragilität der Demokratie und von politischen Klüngeleien, die zwar "neue Mehrheiten, aber kein neues Vertrauen in diese Mehrheiten schafften".

In Mitterrands Frankreich verhielt es sich nicht besser. Der Bericht von Quoniam verschwand in Ministerialschubladen. Auf dringende Fragen hatte Kulturminister Jack Lang bald nur noch gewundene Antworten parat, etwa in diesem Interview vom Sommer 1983: "Spiegel: Eine der dringendsten Forderungen der Dritten Welt ist die Rückgabe ihrer archäologischen Schätze durch die früheren Kolonialstaaten. Haben Sie in dieser Hinsicht schon etwas unternommen, oder kann man mit einer spektakulären Geste rechnen? Lang: Die Rückgabe der Kulturgüter ist eine durchaus legitime Forderung, vor allem, wenn sie aus Ländern kommt, die auf ihrem eigenen Territorium nicht einmal mehr eine Spur ihrer Vergangenheit haben. Man kann hier aber keine Automatik erwarten. Es muss in jedem Einzelfall diskutiert und verhandelt werden. Und dann ist es bei einer Rückgabe ja auch wichtig, dass die Länder in der Lage sind, die zurückgegebenen Werke zu unterhalten." Es sind dieselben Einwände und Vorbehalte, die man auch heute hört.

Es ist für Historiker kein Leichtes, die Geschichte nicht eingelöster Möglichkeiten, des Erstickens und Verdrängens historischer Optionen zu schreiben. Schriftliche Quellen fehlen oft. Lobby- und Verhinderungsarbeit vollziehen sich meist außerhalb schriftlicher Koordinatensysteme. Was waren die Strukturen, Kräfte und Hierarchien der frühen Achtziger, die überall in Europa dafür sorgten, dass das Projekt einer geordneten und fairen Rückgabe von Kulturgütern an die (wie man damals sagte) "Dritte Welt", wie sie von verschiedenen Regierungen ernsthaft erwogen wurde, nicht weiter verfolgt werden konnte?

Die Unesco-Konvention gegen illegalen Handel mit Kulturgut stieß auf zähen Widerstand

Welche Rolle spielten damals die Museen? Welche spielte der Kunsthandel, der in diesen Jahren aktiv dazu beitrug, dass in vielen europäischen Ländern die Ratifizierung der Unesco-Konvention von 1970 lange nicht erfolgen konnte? Die Konvention ging gegen den illegalen Handel mit Kulturgut (nicht zuletzt aus Afrika) vor und räumte die Möglichkeit von Restitutionen ein - sie wurde von Frankreich erst 1997, von Deutschland 2007 und von Belgien, einer wichtigen Drehscheibe des Handels mit sogenannter Tribal Art, erst 2009 ratifiziert.

Wer waren die Leute von 1979, die in ihren Behörden und Dienstzimmern, bei Dinners und im Kunsthandel dafür sorgten, dass das Thema so erfolgreich von der Bildfläche verschwand? Lassen sich (zeit-)historische Mechanismen des Vergessens und Verdrängens, des Verzichts auf Optionen überhaupt an Personen und Institution festmachen? Fest steht, dass die Restitutionsdebatte der Jahre um 1979 so vollständig aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, dass im Sommer 2017 selbst der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, in einem Interview behaupten konnte: "Die Provenienz völkerkundlicher Bestände ist ein relativ neues Thema."

Nichts an diesem Thema ist neu. Und nichts Revolutionäres oder Radikales ist an den Empfehlungen, die wir im November 2018 Emmanuel Macron vorgelegt haben. Das alles gab es schon einmal. Die Wucht, mit der das Thema jetzt viele europäische Gesellschaften erschüttert, ist die Wucht eines Boomerangs bei der Rückkehr zu seinem Ursprungsort. Die Rückkehr eines Verdrängten, wenn man so will, das nun mit vervielfachter Schleuderkraft auf der historische Bühne einschlägt und sich nicht mehr ignorieren lässt.

Bénédicte Savoy ist Kunsthistorikerin. Sie lehrt an der TU Berlin und am Collège de France. Ihr gemeinsam mit Felwine Sarr für den französischen Präsidenten Macron verfasster Bericht zur Restitution afrikanischer Kulturgüter erscheint auf Deutsch Ende März bei Matthes & Seitz.

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