Türkei:Beweismittel Biene

657 Seiten stark ist die Anklageschrift gegen den Kulturmäzen Osman Kavala und 15 weitere Beschuldigte. Darin ist auch von separatistischen Umtrieben die Rede - die angeblichen Belege sind teilweise höchst kurios.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Abgehörte Telefongespräche, Flugdaten, private Fotos auf dem Handy, Tweets und Facebookposts - all das findet sich als "Beweismaterial" in der Anklageschrift gegen den türkischen Kulturmäzen Osman Kavala, die nun von einem Gericht für schwere Straftaten in Istanbul angenommen wurde. Damit kommt es zum Prozess gegen den 62-Jährigen und 15 Mitangeklagte. Unter ihnen sind Schauspieler und Filmemacher, eine bekannte Architektin, ein Anwalt sowie der schon mehrmals verurteilte Journalist Can Dündar, der inzwischen in Deutschland lebt.

Sechs der 16 Angeklagten befinden sich bereits seit längerem im Ausland. Allen wird vorgeworfen, sie hätten vor sechs Jahren an den Gezi-Protesten in Istanbul teilgenommen und so versucht, mit einer "gewaltsamen Rebellion" die Regierung zu stürzen oder an ihrer "Aufgabenerfüllung" zu hindern. Den Angeklagten droht erschwerte lebenslange Haft, also mindestens 30 Jahre Einzelhaft. Wann der Prozess beginnen soll, ist nicht bekannt. Kavala sitzt seit fast 500 Tagen in Untersuchungshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis.

Türkei: Seit fast 500 Tagen sitzt der Kulturförderer Kavala schon im Gefängnis. Die türkische Staatsanwaltschaft fordert erschwerte lebenslange Haft.

Seit fast 500 Tagen sitzt der Kulturförderer Kavala schon im Gefängnis. Die türkische Staatsanwaltschaft fordert erschwerte lebenslange Haft.

(Foto: Ozan Kose/AFP)

Die 657 Seiten starke Anklageschrift zeigt, wie lückenlos der türkische Staat seine Bürger zu überwachen vermag, aber auch, wie absurd die Datenanalyse bisweilen ausfällt. So fand sich auf Kavalas Handy das Foto einer Landkarte, vom 27. Februar 2016, wie die Anklage vermerkt. Der Staatsanwalt wertete die Karte als Beweis dafür, dass Kavala "die Einheit der Türkischen Republik" zerstören und ihre Grenzen verändern wollte. Separatismus ist einer der schwersten Vorwürfe in der Türkei. Die regierungskritische Webseite Odatv hat sich die Karte näher angesehen und herausgefunden, dass sie die "geografische Verbreitung von Bienenrassen" im Nahen Osten zeige. Die Webseite gibt auch die Quelle an: ein auf Englisch erschienenes Buch zur Bienenzucht von 1988. Auch eine türkische Publikation übernahm später die Bienen-Karte, wie Odatv zeigte.

Die Anklage vergleicht die Gezi-Ereignisse mit dem Militärputsch von 1960. Damals putschte die Armee gegen Ministerpräsident Adnan Menderes, der später von den Putschisten gehängt wurde. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich immer wieder auf Menderes bezogen, der ebenfalls eine konservative Politik verfolgte und der Religion mehr Raum geben wollte. Deshalb ist dieser Hinweis in der Anklageschrift von Bedeutung. Der Militärputsch fand am 27. Mai 1960 statt - und auch die Gezi-Park-Proteste hätten an einem 27. Mai begonnen, betont die Staatsanwaltschaft. Am 27. Mai 2013 hatten Arbeiter der Istanbuler Stadtverwaltung versucht, Bäume in dem kleinen Park im Istanbuler Zentrum zu entfernen. Der Park sollte laut einem Beschluss der Stadt von 2011 dem Wiederaufbau eines osmanischen Kasernengebäudes weichen, das später teilweise als Einkaufszentrum genutzt werden sollte.

Türkei: Verbreitungsgebiet der Anatolischen Honigbiene (A.m. anatoliaca).

Verbreitungsgebiet der Anatolischen Honigbiene (A.m. anatoliaca).

(Foto: oh)

An dem Plan gab es schon vor Beginn der Proteste Kritik. Zwei Parlamentsabgeordnete stoppten die Baumaschinen, mit körperlichem Einsatz. Dann schlugen einige Demonstranten in dem Park Zelte auf, es folgten Tausende. Die Proteste breiteten sich "in unglaublicher Geschwindigkeit", wie es in der Anklage heißt, auf viele Städte aus. Die Polizei reagierte mit großer Härte, es gab Tote und Schwerverletzte. Den Angeklagte wird vorgeworfen, sie hätten mit den Vorbereitungen der Proteste schon 2011 begonnen, diese seien also keineswegs spontan gewesen. Sie hätten sich zudem "lobend" über den Ende 2010 ausgebrochenen Arabischen Frühling geäußert, und sich ähnliche Ereignisse für die Türkei "gewünscht". Kavala wird beschuldigt, er habe die "Rebellion" finanziert. Der Mäzen hat dies schon mehrmals dementiert. Auch die Behörde für die "Untersuchung von Finanzkriminalität" war laut Anklage in die Ermittlungen eingeschaltet. Die begannen schon bald nach den Protesten.

Und auch das ist absurd: Zunächst wurden sie offenbar von einem Mann geführt, der nun selbst im Gefängnis sitzt, verurteilt im Mai 2018 zu erschwerter lebenslanger Haft. Der frühere hohe Polizeioffizier Mithat A. trägt den Spitznamen "Panzer-Mithat", seit er in der Nacht des Putschversuchs im Juli 2016 in einem Panzer bis vors Istanbuler Polizeipräsidium rollte. Daran hat jetzt der türkische Journalist Tunca Öğreten in der taz erinnert. Öğreten ist daher überzeugt, dass es sich bei den Gezi-Ermittlungen zuerst um eine Aktion von Gülen-Anhängern handelte. Erdoğan und der Prediger Fethullah Gülen waren einst Weggefährten, bevor es zum Bruch kam. Erdoğan beschuldigt Gülen, Drahtzieher des Putschversuchs gewesen zu sein.

Kavalas Aktivitäten haben also womöglich nicht nur der Regierung, sondern auch Gülen missfallen - kein Wunder, schließlich ist auch er ein türkischer Nationalist. Kavala dagegen unterstützte mit seiner Stiftung ein Kulturzentrum in der türkischen Kurden-Metropole Diyarbakır, ein armenisch-türkisches Jugendorchester und Ausstellungen zu Tabus in der Erinnerungskultur.

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