Aids:Wo bleibt das Mittel gegen Ausgrenzung?

Aids: Szene aus dem französischen Film "120 BPM" über den Ableger der Aids-Aktivistengruppe Act Up

Szene aus dem französischen Film "120 BPM" über den Ableger der Aids-Aktivistengruppe Act Up

(Foto: Salzgeber)
  • Das HI-Virus ist aus dem gesellschaftlichen Alltagsdiskurs, zumindest in Deutschland, so gut wie verschwunden.
  • Es gibt zwar Serien und Filme, die sich mit den frühen Tagen der Aids-Epidemie befassen, nicht aber mit der Gegenwart.
  • Dabei ist Aufklärung, Antidiskriminierung und Entstigmatisierung beim Thema HIV essentiell.

Von Jan Kedves

Die Verkürzung einer hochkomplexen Nachricht auf eine griffige Headline kann in die Irre führen. Im schlimmsten Fall werden Menschen, die dieser Tage hören, dass es Medizinern nun zum zweiten Mal gelungen ist, einen Patienten vom HI-Virus zu heilen, denken: Wunderbar, dann darf ich jetzt endlich wieder ohne Kondom vögeln. Oder: Wunderbar, ich bin mein Virus bald los.

So einfach ist es gerade nicht. Abgesehen davon, dass Kondome weiterhin wichtig sind, weil sie ja auch vor anderen Infektionen wie Hepatitis und Syphilis schützen, ist hochfraglich, ob die an sich natürlich positive und erfreuliche Nachricht, dass der anonyme "Londoner Patient", der nach einer Stammzellentransplantation nun seit 18 Monaten kein HI-Virus mehr in sich trägt, für die rund 37 Millionen anderen Menschen, die mit HIV auf der Welt leben, überhaupt jemals eine Folge haben wird.

Optimisten träumen derweil schon davon, dass sich aus den Erkenntnissen, die die Virologen am University College London nun sammeln, eine Spritze destillieren lassen könnte, die den HI-Virus aus dem Körper tilgt. Wie immer gilt: Die Hoffnung wäre keine Hoffnung, wenn sie sich von Wahrscheinlichkeiten und Machbarkeiten groß beeindrucken ließe.

Die Nachricht platzt hinein in eine Zeit, in der paradoxerweise zwei Beobachtungen gleichzeitig zutreffen: Einerseits ist das HI-Virus aus dem gesellschaftlichen Alltagsdiskurs, zumindest in Deutschland, so gut wie verschwunden. Das hängt damit zusammen, dass seit geraumer Zeit ja medikamentös für Infizierte eine gute Lebbarkeit hergestellt ist. Die seit 1997 stetig verbesserte antiretrovirale Therapie erlaubt es Betroffenen, mit einer Pille am Tag eine Lebenserwartung zu erreichen, die sich von der Lebenserwartung nichtinfizierter Menschen nicht unterscheidet. Wer eine HIV-Therapie nimmt, ist auch nicht mehr ansteckend. Es gibt außerdem eine Präventionspille, Truvada. Sie verhindert eine Ansteckung bislang Negativer, wenigstens dort, wo sie primär verfügbar ist: im ökonomisch wie gesundheitlich privilegierten Westen. Also bye bye, Drama?

Demgegenüber steht die auffällige Häufung von Kinofilmen, TV-Serien und Ausstellungen, die sich mit den tragischen, frühen Tagen der Aids-Epidemie in den Achtziger- und Neunzigerjahren befassen. Damals, als Aids oft noch das Todesurteil war. In "Dallas Buyers Club" (2013) spielte Matthew McConaughey einen verzweifelten Erkrankten, der beginnt, das in den USA noch nicht zugelassene Medikament AZT illegal aus Mexiko einzuführen und so einen eigenen privaten Krieg gegen die Arzneimittelbehörde zu führen. In der aktuellen Netflix-Serie "Pose", angesiedelt in der queeren New Yorker Ballroom-Szene, spielen einige der bewegendsten Szenen in einem Aids-Hospiz, 1987, als die Menschen starben wie die Fliegen.

Haben die tränenreichen Aids-Geschichten schon etwas von Exploitation?

Im vergangenen Jahr zu Recht bejubelt wurde der französische Film "120 BPM". Er basiert auf der wahren Geschichte des Pariser Ablegers der Aids-Aktivisten-Gruppe Act Up. Gegründet wurde Act Up in New York, die Gruppe kämpfte dann bald weltweit unter anderem mit Strategien des sogenannten viralen Marketings - mit illegalen Poster-Plakatierungen, Flyern - gegen das Virus, zu einer Zeit, als die Regierungen noch keine Notwendigkeit zu Präventionspolitik sahen. Der berühmte Act-Up-Slogan, "Silence = Death", Schweigen bedeutet Tod, gibt auch einem ikonischen Porträt des Künstlers David Wojnarowicz den Titel, auf dem dieser sich den Mund zugenäht hat. Wojnarowicz starb 1992 in New York an den Folgen des Virus. Die Berliner Kunst-Werke widmen ihm gerade eine große Retrospektive.

Überspitzt könnte man sagen: überall Erinnerung an Aids, an das Leid, an die Sterbenden, vorwiegend Schwule, die mit ihrem Schicksal hadern, quasireligiöse Bestrafungsphantasmen und tränenreiche Solidarisierungen inklusive. Hat das schon Züge von Exploitation? Vielleicht. Andererseits: Ist es nicht auch wichtig in Zeiten, in denen Aids kaum noch ein Problem zu sein scheint, in Fiktionen, Narrationen und fiktionalisierten Dokumentationen daran zu erinnern, was die Diagnose früher bedeutete? Könnte sich, in einer Art sexualhistorischen Transferleistung, so die Wichtigkeit des Redens über Aids und der Prävention im Heute betonen lassen?

Kunst, die sich mit dem Status quo befasst, gibt es hingegen wenig. Da ist Wolfgang Tillmans' Fotografie "17 Years' Supply" aus dem Jahr 2014: eine Aufnahme von oben in eine Pappkiste, in der der Künstler die leeren weißen Pillendosen gesammelt hat, die er im Zuge seiner eigenen antiretroviralen Therapie seit 1997 verbraucht und gesammelt hat. Das Foto zeigt einerseits clean und undramatisch, wie das Leben mit dem Virus weitergehen kann, wenn man im privilegierten Westen lebt: jeden Tag eine Pille, nach ein paar Jahren dann eben eine Kiste voller Plastikmüll. Diesem Foto stehen in Tillmans' Werk Serien zur schwierigen Aids-Aufklärungsarbeit in Afrika gegenüber und zum Kampf um LGBT-Rechte in Russland. Doch auch in "17 Years' Supply" steckt Drama - das Foto führt ganz nüchtern vor Augen, dass die tägliche Einnahme der Pille auch eine tägliche Erinnerung daran ist, dass das Virus immer noch im Körper ist. Ein Mindfuck, eigentlich. Therapie ist eben nicht gleich Heilung.

Am Dienstag sagte Norbert Brockmeyer, der Präsident der Gesellschaft zur Förderung der sexuellen Gesundheit und Professor an der Uni Bochum, im Interview mit dem Deutschlandfunk: Vor die Wahl gestellt, ziehe er die Option, täglich eine Pille einzunehmen, der Aussicht auf eine schwere, nebenwirkungsreiche Knochenmarkstransplantation, wie sie in London zur Heilung führte, jederzeit vor. Er meinte dies nicht zuletzt als Warnung davor, aus der verkürzten Nachricht, die nun um die Welt geht, die falschen Schlüsse zu ziehen.

Ebenfalls warnte Brockmeyer davor, nun zu vergessen, dass eine Bekämpfung des Virus weiterhin auf anderen Gebieten ansetzen muss: Aufklärung, Antidiskriminierung, Entstigmatisierung. "Immer dann, wenn es Druck gibt, wenn die Menschen Angst haben, dass sie ausgegrenzt werden können, wie das ja in vielen Ländern, gerade auch in Osteuropa, passiert, sehen wir dann die hohen HIV-Infektionszahlen, in der Ukraine und in Russland zum Beispiel", so Brockmeyer. Mit anderen Worten: Wer von Heilung träumt, sollte die Gründe, die zur Infektion führen, nicht vergessen. Wie wäre es mit einer Spritze gegen Diskriminierung und Ausgrenzung?

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