Kunst:Tropfsteinhöhle für rechte Winkel

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In Chemnitz hat David Schnell ein dunkelblaues Glas-Triptychon geschaffen. Die Ausstellung "Splitter" zeigt sein beeindruckendes Bildwerk.

Von Till Briegleb

Vielleicht fängt man als Künstler an, sakral zu werden, wenn man sich täglich mit der Zentralperspektive beschäftigt. Fluchtlinien sind ja eigentlich ein nicht zu begreifendes Phänomen: strahlenförmige Gebilde eigentlich paralleler Geraden, die sich erst in der Unendlichkeit berühren. Dieser scheinbar paradoxe Gedanke hat zweifellos eine gewisse Magie. Walten vielleicht hinter dem unerklärlichen Punkt im Unendlichen, wo der Kuss aller Linien stattfindet, doch noch transzendente Mächte? Göttliches, das für all das Schöne und all das Chaotische in unserer hiesigen Welt verantwortlich ist? Könnte diese mystische Vorstellung der Grund sein, warum David Schnell neuerdings so emsig Kirchenfenster entwirft? Für Leipzig, Köln und Naumburg.

Jedenfalls ist die Beschäftigung mit der Fluchtperspektive im Werk des Gladbacher Künstlers aus dem Maler-Rennstall der Leipziger Schule exzessiv. Seit der Meisterschüler von Arno Rink an der Hochschule für Grafik und Buchdruck im Jahr 2000 das erste Mal öffentlich in Erscheinung trat, konzentriert er sich auf diese Horizontpunkte, die alle Perspektiven und Größenordnungen bestimmen. Seit rund zwanzig Jahren malt er riesige und kleinere Formate in freiwilliger Selbstbeschränkung auf die stürzenden Linien. Balken, Bäume, Splitter, Fenster, Hochsitze, Treppen, selbst die Bestandteile einer Bar bilden Bildtrichter in präziser Ausrichtung auf den ewig ungreifbaren Horizont.

Trotzdem ist David Schnells beeindruckendes Bildwerk, das jetzt in einer großen Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz mit Arbeiten bis 2019 zu sehen ist, weniger die Renaissance der Renaissanceidee. Filippo Brunelleschis Einführung der Zentralperspektive in die Malerei sollte es möglich machen, Objekte auf der Leinwand realistisch vorzutäuschen (womit die Kunst ihre entscheidende Wendung zur Abbildung von Wirklichkeit nahm). Doch David Schnell führt den Täuschungsgedanken gerade ad absurdum. Wenn seine perspektivisch korrekten Anordnungen von schwebenden Elementen im Raum irgendetwas nicht sind, dann realistisch. Ihre absolute Künstlichkeit - ungeheurer dynamisch und extrem farbenfroh komponiert - macht seine Landschaften und Architekturen so attraktiv.

In den aufregenden Kompositionen halten Ruhe und Gewalt die Balance

Mal sieht ein rosa Birkenwald aus wie ein Baumgefängnis, ein blauschwarzer deutscher Tannenwald mit dunkelrotem Aderlass wie eine Tiefseeerscheinung. Ein Raum, überfüllt mit Rahmen, erscheint wie eine Tropfsteinhöhle für rechte Winkel. Die Leuchtreklamen des Shoppingviertels von Hongkong ergeben zeichenbereinigt und in schmutzigen Farben einen geisterhaften Canyon, wie einen Eingang zum kapitalistischen Totenreich. Manch aufgelöste Strukturen längs der starren Fluchtlinien wirken wie geometrische Geister in einer nachtschwarzen Kathedrale oder eine Weltraumschlacht aus glühenden Brettern. Und eine einsame Palmengruppe in der Karibik erwartet einen Taifun in Form einer Phalanx.

Ruhe und Gewalt halten sich meist die Balance in diesen aufregenden Kompositionen. Fest gebunden an das Gesetz des Fluchtpunkts scheint gesicherte Ordnung zu herrschen. Aber die zersplitterte Welt, die darin gebunden ist, vermittelt doch immer Gefahr und Auflösung. Und aus diesem Prinzip lässt sich auch ein organischer Verbindungspunkt erkennen, um David Schnells neue Vorliebe für das Kirchenfenster zu erklären. Vom Splitter zum konkreten Glas ist es nur ein kleiner metaphorischer Schritt. Und von den parallelen Geraden der Perspektivkonstruktion, die wie ein Strahlenkranz wirken, kommt man leicht zur Parallelität der Sonnenstrahlen. Sie scheinen ebenfalls einen Kranz zu bilden, wenn sich eine Wolke vor die abendliche Himmelsscheibe schiebt und die noch durchdringenden Lichtbündel in alle Richtungen weisen.

Allerdings verdankt David Schnell die Erweiterung seiner Arbeitsmedien Fremden. 2008 wurde er zum Wettbewerb für das neu zu gestaltende Friedensfenster in der Thomaskirche Leipzig geladen, das an die friedliche Revolution von 1989 erinnern soll. Schnell entwarf ein Mikado aus fliegenden Balken auf Kollisionskurs zu einer streng vertikalen Struktur im Hintergrund. Die ausgesprochen fröhlichen Farben dieses hohen Spitzbogenfensters erzeugen die optimistische Anmutung eines lohnenden Kampfes gegen erstarrte Ordnung. Und aufgrund dieses wirklich gelungenen Friedensfensters ohne falsches Pathos boten ihm weitere Kirchen die Gelegenheit, mit dem Schauspiel wechselnden Tageslichts zu experimentieren.

Er entwarf für die Johanneskapelle auf dem Domfriedhof in Naumburg zwei kleinere Fenster in Nachtblau und Feuerrot: verschwimmende beziehungsweise lavaartige Landschaften, die an Schöpfung und Apokalypse erinnern mögen. Und im Anschluss wurde er in Köln, wo er seine Kindheit und Jugend verlebte, eingeladen, für das neu errichtete Gotteshaus der Christuskirche am Stadtgarten alle Fenster zu gestalten. Für den strahlend weißen Innenraum dieser von Maier Architekten entworfenen modernen Kirche wählte Schnell einen kleinteiligen Fragmentregen als Struktur. In zarten Rosa- und Grüntönen sollte dieser einen dezenten Lichtschmelz im Inneren erzeugen. Leider wurde aus Kostengründen bisher erst ein Rosettenfenster realisiert.

Dafür boten die Kunstsammlungen Chemnitz David Schnell die Möglichkeit, seine Ausstellung um ein Fenster zu erweitern und damit die Tradition der Glasmalerei in weltlichen Bauten wieder aufzunehmen, wie sie früher nicht nur in der DDR mit ihren Propagandamotiven in Treppenhäusern lebendig war. Für ein Außenfenster im Ausstellungsraum hat Schnell ein dunkelblaues Glas-Triptychon explosiver Kleinteile mit dem Titel "Splitter" realisiert. Temporeiche Wucht gedämpft durch die beruhigende Farbe zeigt auch hier wieder die für David Schnell so typische Dialektik aus Sog und Stille. Und man kann diese Arbeit, die der Ausstellung ihren Titel gab, in zwei Richtungen empfinden. Als Urknall aus dem Nichts, der Materie am Betrachter vorbeirauschen lässt, oder als Sturz in den Tod, wo alle blauen Seelen sich in einem Punkt hinter dem Horizont vereinen. Physik und Religion sind also für einen kurzen Moment in der Kunst vereint. Ihr Gemeinsames ist der Fluchtpunkt.

Splitter. David Schnell. Kunstsammlungen Chemnitz, bis 12. Mai 2019. Katalog (E. A. Seemann Verlag) 128 Seiten, 28 Euro.

© SZ vom 11.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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