Literatur:Wer hat hier die Füße unter wessen Tisch?

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Handwerker befestigen im August 2018 die Buchstaben für das Wort "Heimat" am Eingang zum Dienstgebäude des "Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat". (Foto: dpa)
  • In dem Sammelband "Eure Heimat ist unser Albtraum" loten vierzehn Autorinnen und Autoren, die in erster, zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, aus, was Heimat für sie bedeutet.
  • Das Buch ist trotzdem weit entfernt von der sogenannten "Migrationsliteratur" früherer Generationen.
  • Hier sprechen Menschen, die Deutschland selbstverständlich als ihre Heimat ansehen und sich vor allem fragen, wo ihr Platz in dieser Heimat ist und wie sie diesen gestalten.

Von Verena Mayer

Heimat. Es gibt wahrscheinlich kaum einen Begriff, der dermaßen aufgeladen und gleichzeitig so schwer zu fassen ist. Begreift man sie als Sehnsuchtsort wie die Romantiker oder als deckungsgleich mit dem Nationalstaat, wie es Ende des 19. Jahrhunderts üblich wurde? Braucht Heimat Natur oder kann auch eine Großstadt Heimat sein? Kann man sie unironisch lieben, wie es die Heimatfilme suggerieren, oder muss man sie hassen, wie es die sogenannte Anti-Heimatliteratur vorgemacht hat, die im Österreich der Sechziger- und Siebzigerjahre die Provinz als Brutstätte des Dumpfen und Reaktionären in Szene gesetzt hat? Meint Heimat eine Welt der Regionen, die man der Globalisierung entgegensetzt, oder existiert sie überhaupt nur in der Erfahrung des Verlusts?

Am weitesten kommt man wahrscheinlich noch über das Ausschlussverfahren. Wenn man sich Heimat dadurch nähert, was sie nicht ist oder nicht sein kann. Das ist der Ansatz des Sammelbandes "Eure Heimat ist unser Albtraum". Vierzehn Autorinnen und Autoren, die in erster, zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, loten aus, was dieses Wort für sie bedeutet, das in anderen Sprachen kaum Entsprechungen hat. Entstanden sei die Idee, so die Herausgeberinnen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, als das frühere Innenministerium die Zusätze "für Bau und Heimat" erhielt und mit Horst Seehofer einen Chef, der sich erst einmal für mehr Abschiebungen und eine restriktivere Migrationspolitik aussprach. (Und der bei der Antrittspressekonferenz sein Ministerium dann auch noch versehentlich "Heimatmuseum" nannte.)

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Wer nicht Müller oder Schmidt heißt, bekommt zu hören, er könne ja gehen. Aber wohin?

Der Titel ist auf dem Cover so gesetzt, dass einem auf den ersten Blick nur die Worte "Heimat ist Albtraum" ins Auge springen. Als solchen nehmen viele Deutschland auch oft wahr. Der Journalist Enrico Ippolito erzählt, wie einer wie er, der "nicht Müller oder Schmidt" heißt, entweder höre, dass er "aber gut Deutsch" spreche oder dass er ja zurückgehen könne, wenn ihm etwas nicht passt. "Jedes Mal hatte er sich gefragt, wohin er denn eigentlich zurückgehen solle. Er war hier in Deutschland aufgewachsen." Margarete Stokowski, die als Kleinkind mit ihrer polnischen Familie nach Berlin kam, schreibt vom ambivalenten Verhältnis zu ihrer Muttersprache, das paradoxerweise aus der perfekten Integration entstand: Ihre Großeltern wollten, dass die Kinder in der Öffentlichkeit Deutsch sprechen. Was ihr das Gefühl gab, "dass meine Muttersprache etwas ist, was ich besser loswerden" sollte. "Polnisch war gleichbedeutend mit arm, gleichbedeutend mit: besser nicht da."

Der eindringlichste Text ist von Fatma Aydemir und heißt schlicht "Arbeit". Er kreist um diesen Begriff, der in Deutschland mit Ethos und Moral gleichgesetzt wird, um Gastarbeiter wie ihren türkischen Großvater, der sieben Tage die Woche in einer Stahlfabrik schuftete, und um Überarbeitung als Lebensgefühl einer Bevölkerungsgruppe, deren Status an ihre Erwerbstätigkeit gekoppelt ist. Noch am Tag ihrer Einbürgerungsfeier musste Aydemir einen aktuellen Lohnnachweis vorlegen.

Das Interessante an dem Buch ist, dass die Autorinnen und Autoren gar nicht erst versuchen, sich mit der verlorenen Heimat zu beschäftigen oder der Frage, wo denn nun die eigene Heimat sei. So wie es die Schriftstellergeneration zuvor getan hat, der oft das Label "Migrationsliteratur" angeklebt wurde. Hier sprechen Menschen, die Deutschland so selbstverständlich als ihre Heimat ansehen, dass sie darüber nicht viele Worte verlieren müssen. Und die sich vor allem fragen, wo ihr Platz in dieser Heimat ist und wie sie diesen gestalten.

Diese Selbstverortung passiert in dem Band durch Sprache und literarisches Erzählen. Vina Yun, Kind koreanischer Einwanderer in Österreich, beschwört die Geschmäcker ihrer Kindheit, all die Gerichte, mit denen ihre Mutter die Verbindung zur Heimat hielt. Doch das vertraute Essen, eigentlich eine Form der Kommunikation und des familiären Miteinanders, wird für die Tochter zu einer "Quelle der Scham", weil es "unsere Eltern und uns zu 'Ausländern' machte".

Die Enkel der Einwanderer sitzen mit am Tisch und wollen das Gesprächsthema bestimmen

Die Rapperin Reyhan Şahin tastet sich an ihre sexuelle Selbstbestimmung heran, indem sie sich an die Wörter herantastet, die das Deutsche für Sexualität hat, was beinahe an konkrete Poesie erinnert.

Und die Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo schreibt über Rassismus in Form eines Dialoges zwischen Mutter und Sohn. Die beiden reden darüber, was man erlebt, wenn man schwarz ist. Die Mutter will ihren Sohn beschützen vor den Erfahrungen, die er täglich in der U-Bahn oder in der Schule macht, aber während des Gesprächs kehren sich die Rollen um. Denn es ist der Junge, der eine fast schon altersweise Sicht auf das Leben hat: Leute, die ihm rassistisch kommen oder ihm seine Erfahrung mit Diskriminierung absprechen wollen, betrachte er mit Nachsicht: "Als ich anfing, weiße Menschen in dieser Hinsicht mehr als Kinder zu betrachten, konnte ich akzeptieren, dass es einige Dinge gibt, die sie einfach aus eigener Erfahrung nicht wissen."

Der Sammelband ist gewissermaßen die literarische Entsprechung des Buches "Das Integrationsparadox", mit dem der Soziologe Aladin El-Mafaalani im Herbst für Aufsehen sorgte. El-Mafaalanis These ist, dass das Thema Integration nicht deswegen zu Konflikten führe, weil Integration nicht gelinge, sondern weil Deutschland längst plural und vielfältig sei. Er skizziert die deutsche Gesellschaft als großen Tisch, an dem sich die unterschiedlichsten Gruppen versammeln, darunter eben auch die Kinder und Enkel der Einwanderer. Und die wollen nicht nur dort sitzen, sondern auch bestimmen, was auf den Tisch kommt. Oder was man zum Gesprächsthema macht. Immer wieder geht es in "Eure Heimat ist unser Albtraum" darum, welche Diskussionen man führen muss und welche nicht mehr. Wie man sich nennt und wie man wahrgenommen werden will.

Das schließt mit ein, dass man auch mal aufstehen darf, wenn einem das Tischgespräch nicht passt. Das ist das Thema des Berliner Politikwissenschaftlers Max Czollek, der in dem Band mit dem Text "Gegenwartsbewältigung" vertreten ist. Er hat es satt, dass man als Jude nie für sich selbst stehen dürfe, sondern immer als Teil einer "konstruierten Gruppe" wahrgenommen werde, "hinter der bestimmte Erwartungen und Zuschreibungen stehen". Seinen Gegenvorschlag hat er vor Kurzem in die gleichnamige Streitschrift gegossen: Desintegriert euch! Weil Heimat eben auch das Recht bedeutet, sich ihrer Umklammerung zu entziehen.

© SZ vom 20.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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