Fantastische Darstellungen:Grafiken wie Poesie

Die Künstlervereinigung Dachau zeigt in einer Ausstellung zum Teil noch nie veröffentlichte Werke von Adolf Schinnerer, der vor 70 Jahren starb

Von Gregor Schiegl, Dachau

Adolf Schinnerer (1876-1949) war ein äußerst produktiver Künstler. Aus einem Brief von 1922 geht hervor, dass er damals bereits rund 700 Platten radiert, 20 000 Radierungen gedruckt und verkauft hatte. Mit Kaltnadel schuf er fantastische Darstellungen von atemberaubender Intensität. Kunstkritiker nannten ihn einen "Poeten unter den Grafikern". Heute ist Schinnerer manchen Kunstliebhabern noch als Maler spätimpressionistischer Bilder ein Begriff, aber als Grafiker fast völlig in Vergessenheit geraten. Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler ist es zu verdanken, dass dieser Teil seines Oeuvres zu seinem 70. Todestag nun in einer höchst sehenswerten Ausstellung in der KVD-Galerie wieder zum Vorschein kommt. Einige Blätter waren noch nie zuvor in der Öffentlichkeit zu sehen.

Der Titel "Der Mensch - zwischen Harmonie und Dämonie" benennt bereits die Pole, aus denen das druckgrafisches Werk seine Spannung zieht. Viele Motive sind biblischer oder literarischer Natur. In einem Bild zu Gottfried Kellers "Meretlein" schlummert ein Mädchen unter den schützenden Ästen einer Buche. Es ist eine schwermütige Szene. Die Striche sind einfach, die Formen klar. Hier sieht man den idyllischen Schinnerer, auch wenn die Idylle trügt: Das Mädchen wurde von einem Pfarrer in den Tod getrieben, weil es nichts für die Religion übrig hatte; selbst dem Sarg musste sie noch entfliehen, ehe sie Ruhe fand. "Meine Blätter sind keine Illustrationen", stellte der Künstler klar. Ihm sei es darum gegangen, die Grundidee darzustellen: "das durch die Dummheit und Rohheit der Menschen bedrohte natürliche Wesen, das mit der Natur ganz innig verbundene Kind".

Ausstellung Schinnerer

Mit Kaltnadel schuf Schinnerer fantastische Darstellungen von atemberaubender Intensität.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Anderer Blätter erinnern mit ihrem nervösen Strich an Alfred Kubin. Die schwarzen Schatten, die mit grell angestrahlten Gesichtern auf unheimliche Weise kontrastieren, kennt man von dem berühmten österreichischen Grafiker. Das ist kein Zufall: Schinnerer und Kubin lernten sich um die Jahrhundertwende an der Kunstakademie in Karlsruhe kennen, sie beeinflussten einander ein ganzes Leben lang. "Sie waren Seelenverwandte", sagt Regine Schinnerer, die jüngste und einzige noch lebende Tochter des Künstlers.

Im Gegensatz zu Kubin sind die surrealen Schreckensgestalten bei Schinnerer Allegorien und Chiffren für psychologische Zustände, Einsamkeit, Angst, für die Verlorenheit in der Masse. Das zeigt sich eindrücklich an Schinnerers früher Mappe "Das Haus am Silbernagel", in der er seine Eindrücke aus dem Ersten Weltkrieg verarbeitet. Ausgemergelte Soldaten drängen in einen fensterlosen Raum, Gestalten wälzen sich aufeinander, eine Vergewaltigung oder eine Prügelei, man weiß es nicht so genau. Schinnerer war nicht an der Front. Er was einquartiert in einer Landshuter Behelfskaserne, wo dumpfe Langeweile herrschte und die Aggression gärte. Genauso beklemmend sind die Szenen aus der privaten Unterkunft in Landshut des Bierbrauers Silbernagel, wo ihn die missgünstige Zimmerwirtin als monströser Nachtmahr heimsucht. Perspektiven und Bildausschnitte muten oft verblüffend modern an, fast cineastisch.

Ausstellung Schinnerer

Die Hochseilartisten, die vor Schaulustigen kopfüber in den Tod stürzen, interpretiert Kurator Norbert Göttler als Allegorie auf den Irrsinn des Ersten Weltkriegs.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Regine Schinnerer, die erst fünf war, als ihr damals schon 72 Jahre alter Vater starb, erinnert sich an einen "liebevollen, großzügigen Mann, der immer nach Tabak roch" und unermüdlich arbeitete. "Nachts schrieb er oft", erzählt sie. Ein sehr stiller Mensch sei er gewesen, ein Melancholiker. Geboren wurde Adolf Schinnerer als Sohn eines evangelischen Pfarrers im oberfränkischen Schwarzenbach an der Saale. 1913, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehörte er zum Gründerkreis der Münchner Sezession, 1920 wurde er als Dozent an die Staatliche Kunstgewerbeschule in München berufen. Seine Frau Emma starb 1937 und ließ ihn mit vier Kindern und einem Hund zurück. Er hatte das Glück, Anna Winzinger kennenzulernen, die er schon ein Jahr später heiratete. Sie war 40 Jahre jünger als er und gebar ihm zwei Kinder: die jüngste war Regine.

In der NS-Zeit durfte Adolf Schinnerer weiterarbeiten. "Er war sicher kein Widerstandskämpfer", sagt Norbert Göttler. Schinnerer war Mitglied der Reichskulturkammer. Künstlerisch eckte er dennoch an. Seine Bilder wurden als "entartet" zurückgewiesen und abgehängt. Nach einer Denunziation durch einen ortsansässigen Kollegen wurde er von der Gestapo verhaftet und verhört, aber wieder freigelassen.

Nach dem Krieg wurde er Präsident der Münchner Akademie der Bildenden Künste. Weil München in Trümmern lag, wurde die Akademie nach Haimhausen verlegt, wo er auch ein Haus gekauft hatte. Die Situation war schwierig. "Es gab keinen Kochtopf und kein Holz", erzählt Regine Schinnerer. Oft gab es Diskussionen, ob man das Ei zum Temperamalen verwenden dürfe oder es nicht doch lieber essen solle. Für die Druckplatten ließ Schinnerer das Blech der Dachrinnen aus der zerbombten Landeshauptstadt bergen und flach klopfen. Unter diesen Bedingungen in Haimhausen eine Kunstakademie aufzubauen, beschrieb Schinnerer selbst als "Wagnis, das aber zu glücken scheint".

Es überrascht nicht, dass man einem so renommierten akademischen Maler nach dem Krieg auch den Vorsitz der Künstlervereinigung Dachau antrug. Und weil die KVD in diesem Jahr offiziell ihr 100-jähriges Bestehen feiert, ist es nur konsequent, dass auch Werke zeitgenössischer KVD-Künstler die Schinnerer-Ausstellung mit ihren Druckgrafiken ergänzen, zum Beispiel Wolfgang Eberlein mit einem Gruppenbild skurriler Fantasiewesen; Martin Off steuert einen Vogelmensch als filigranen Scherenschnitt bei; Margot Krottenthaler hat die Eindrücke eines durchgezappten Fernsehabends in ein buntes Leporello gepackt; auch Arbeiten von Heiko Klohn, Nina Märkl und Florian Marschall sind zu sehen. "Keiner der Künstler steht in einer direkten Traditionslinie zu Schinnerer", sagt Kurator Norbert Göttler. Aber das ist gar nicht so wichtig. Denn die Ausstellung zeigt, dass die Druckgrafik keineswegs nur künstlerisches Vor- oder Nebenprodukt ist, sondern Beachtung als starke eigenständige Ausdrucksform verdient.

Der Mensch - Wesen zwischen Harmonie und Dämonie. Zum 70. Todestag von Adolph Schinnerer. Vernissage an diesem Donnerstag, 21. März, um 19.30 Uhr in der KVD-Galerie. Die Ausstellung ist noch bis 7. April zu sehen.

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