Liebesgeschichte:Wie das Neue ins Vertraute kam

Buchcover Feu 4 - "Der Sommer meiner Mutter

Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter. Roman. C.H. Beck, München 2019. 190 Seiten, 19,95 Euro.

Ulrich Woelks Roman "Der Sommer meiner Mutter" über das Jahr 1969.

Von Jörg Magenau

Bücher mit einer Jahreszahl im Titel haben Konjunktur. Florian Illies hat es im Jahr 2013 mit "1913" vorgemacht. Seither gibt es viele Nachahmer, denn die Methode besitzt den Vorteil, dass sich numerisch jederzeit ein rundes Jubiläum ergibt, so wie es der Buchmarkt gerne mag. Nun ist 1919 dran, aber auch Frank Böschs "Zeitenwende 1979" hat den Sprung auf die Bestsellerlisten geschafft. Literarisch findet das Prinzip ebenfalls Anwendung. Der neue Roman von Ulrich Woelk heißt zwar einfach nur "Der Sommer meiner Mutter", doch es geht um den Sommer 1969, der nun exakt 50 Jahre zurückliegt. Dieses Jahr liegt vielleicht im historischen Aufmerksamkeitsschatten von 1968, ist aber herausgehoben durch die Apollo-Missionen und die erste bemannte Mondlandung. Die Menschheit fieberte mit den Astronauten mit und bekam zum ersten Mal auch die verschattete Rückseite des Mondes zu sehen.

Diese Ereignisse prägen Woelks Geschichte. Der elfjährige Tobias, der als Einzelkind mit seinen Eltern am Stadtrand von Köln aufwächst, bastelt Raketenmodelle und verpasst keine Sondersendung im Fernsehen. Er kennt alle technischen Details und kann es nicht fassen, dass die Mannschaft der Apollo 10, die die Mondlandung testet ohne sie bis zum Ende ausführen zu dürfen, tatsächlich 15 Kilometer über der Mondoberfläche umkehrt, weil die Landung der Apollo 11 vorbehalten bleibt. Das kommt ihm vor, als wäre man wochenlang unterwegs in den Urlaub, um schließlich auf dem Hotelparkplatz umzukehren. Dieses Moment gesteigerter Erwartung in Aufschub und Verzicht prägt sich ihm ein, und es gibt diesem intensiven, einfühlsamen Liebes- und Adoleszenzroman seine emotionale Grundlage.

Nähe- und Ferneverhältnisse geraten in der überschaubaren Vorortsiedlung gehörig durcheinander, als neben Tobias' eher traditionell geprägter Familie - der Vater arbeitet als Ingenieur und die Mutter führt den Haushalt - ein zeitgemäß revolutionär gestimmtes Paar mit einer dreizehnjährigen Tochter einzieht: Der Mann ist Lehrer und Kommunist, die in bunte Tücher gehüllte Frau arbeitet als Übersetzerin. Wider Erwarten freunden die beiden Familien sich über alle politischen Gegensätze hinweg an, grillen gemeinsam und spielen Krocket im Garten. Es ist absehbar, dass Tobias mit der etwas älteren und erfahreneren Rosa seine erotische Initiation erleben wird. Auch die Eheverhältnisse geraten aus dem Lot. Dass die Sache nicht gut ausgehen wird, verrät der erste Satz des Romans: "Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben."

Bis es so weit kommt, hat Woelk noch einige Überraschungen zu bieten. Er erzählt behutsam und zurückhaltend und erzeugt dadurch eine unnachahmliche emotionale Spannung. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, weil die emanzipativen Ideale der neuen Zeit unwiderstehlich sind, den Figuren aber noch ganz äußerlich anhaften, so wie neue, ungewohnte Bekleidung. Die kostümtragende Mutter probiert einmal Jeans an, wagt es dann aber nicht, die modernen Hosen zu tragen. Wenn sie, die nie geraucht hat, plötzlich zu rauchen beginnt, tut sie es mit gespitzten Lippen und saugenden Bewegungen, mehr paffend als inhalierend. Von solchen präzisen Beobachtungen lebt diese beeindruckende Geschichte. Eine besondere Pointe besteht darin, dass die beiden so unterschiedlichen Männer sich in der Beziehungskrise ähnlich verhalten und ihre Frauen mit nur geringfügig modifizierten Argumenten verurteilen. Die Konvention siegt noch einmal über den gesellschaftlichen Wandel.

Woelk, 1960 geboren und in Köln aufgewachsen, hat sich in seinem mittlerweile schon sehr umfangreichen Werk auf Liebesverhältnisse und auf bundesdeutsche Geschichte spezialisiert. Er ist erfahren und erzählerisch versiert genug, um mit Staunen zu bemerken, wie das eigene Leben allmählich historisch zu werden beginnt und sich kapitelweise in Epochen aufteilen lässt. Dazu gehören eben auch die Vibrationen, die das Jahr 1968 ausgelöst hat. Gekonnt verknüpft Woelk die Ebenen - Mondfahrt, Liebes- und Familienleben -, indem er den jungen Tobias die Erfahrung machen lässt, dass kein Ereignis im Kosmos ohne Folgen bleibt. Der dunklen Seite des Mondes entspricht das Rätsel der erwachenden Sexualität. Er begreift nicht, was ihm widerfährt und was sich da zwischen ihm und dem Nachbarsmädchen ereignet. Was er als beglückend erlebt, endet für die Mutter in der Katastrophe, und Tobias ist nicht ohne Schuld an ihrem Tod.

Das mag auch einer der Gründe sein, warum er Jahrzehnte später die Geschichte dieses Sommers aufschreibt. Woelk erzählt also aus der Perspektive eines erwachsenen Mannes, der sich an diesen weit zurückliegenden Sommer erinnert. Trotz der Ich-Form handelt es sich um einen nahezu allwissenden, jedenfalls immer souveränen Erzähler, der jedes Gespräch und jede Stimmungslage mit irritierender Genauigkeit wiederzugeben weiß.

Am Ende hat Woelk dann aber auch noch eine Antwort auf die Frage parat, warum und wem er seine Geschichte so eindrücklich aufschreiben muss. Die Perspektive, die nicht ganz aufzugehen scheint, wird dann doch noch ins Lot gebracht. Woelk, studierter Physiker und Philosoph, ist als Erzähler ein präziser Techniker. Das geht erstaunlicherweise nicht auf Kosten der Spontaneität und Direktheit, sondern erzeugt ganz im Gegenteil eine enorme emotionale Wärme. Er ist sehr nah bei seinen Figuren, die ganz individuell und besonders sein dürfen und die doch Repräsentanten ihrer Zeit, ihrer Versprechungen und ihres Verhängnisses sind. Das macht aus "Der Sommer meiner Mutter" einen in seiner Schlichtheit und sprachlichen Schmucklosigkeit grandios gelungenen Roman.

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