Schwarzfahren:Die Ticketlosen

Odessa, Ukraine

Schwarzfahrer auf einer Straßenbahn in Odessa, Ukraine.

(Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz)

Tausend Menschen landen in Deutschland jedes Jahr wegen Schwarzfahrens im Gefängnis. Grüne und Linke wollen das ändern. Wie gehen andere Länder mit blinden Passagieren um?

Von SZ-Korrespondenten

Etwa 3,5 Prozent aller Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr fahren in Deutschland schwarz, schätzt der Verband deutscher Verkehrsunternehmer. Tausend Menschen landen jedes Jahr deswegen im Gefängnis. Schwarzfahren ist hierzulande, auch wenn es oft nur um ein paar Euro geht, eine Straftat, der Tatbestand lautet "Erschleichen von Leistungen". Wer ohne Ticket ertappt wird, muss normalerweise zunächst einmal ein "erhöhtes Beförderungsentgelt" von 60 Euro zahlen, Wiederholungstätern droht eine Anzeige. Meistens werden die Schwarzfahrer zu Geldstrafen verurteilt, wenn sie diese aber nicht zahlen können, müssen sie eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Das verursacht Justizkosten von 15 Millionen Euro im Jahr. Grüne und Linke wollen das ändern und aus der Straftat eine Ordnungswidrigkeit machen. Sind die Deutschen eigentlich besonders streng mit ihren Schwarzfahrern? Wie sieht es in anderen Ländern aus? Ein Rundblick.

Fare il portoghese

Ein Drittel der Römer fährt schwarz. Davon geht Atac aus, der übel beleumundete Verkehrsbetrieb der Stadt. Viele sehen in ihrem Schwarzfahren eine legitime Rache, denn allzu oft steht man sich an Haltestellen die Beine in den Bauch, etwa weil die Fahrer streiken oder an der Endstation zusammen Kaffee trinken. An Feiertagen kam es schon vor, dass sich das halbe Personal von Atac kollektiv krank meldete. Und dann ist da noch der desolate Zustand des Wagenparks, alle paar Wochen geht ein Bus in Flammen auf. Aber natürlich duldet Atac das Schwarzfahren nicht, oder wie die Italiener sagen: "fare il portoghese" (etwa: so tun, als wäre man Portugiese). Der Spruch bezieht sich wohl auf eine Geschichte im 18. Jahrhundert, da lud der portugiesische Botschafter in Rom alle seine Landsleute ins Theater ein. Tickets bräuchten sie keine, sagte er, es reiche, dass sie am Eingang ihre Nationalität deklamierten. Nun, es taten dann offenbar auch viele Römer so, als wären sie Portugiesen. Wer beim Schwarzfahren erwischt wird und sofort bezahlt, mit Kreditkarte an Bord oder in den fünf folgenden Tagen, der kommt mit 50 Euro davon - zuzüglich 3,40 Bearbeitungsgebühr und 1,50 für eine Fahrkarte, also total 54,90 Euro. Vom sechsten Tag an beträgt die Buße 100 Euro. Seit einigen Monaten hat die Stadt die Kontrollen verstärkt. Doch ob damit genügend Geld reinkommt? Atac hat mehr als eine Milliarde Euro Schulden. Oliver Meiler, SZ-Korrespondent für Italien

Negativpunkte

Ein Schnellzug auf dem Weg nach Peking. "Liebe Passagiere, Menschen, die ohne Ticket reisen oder sich ordnungswidrig verhalten, werden gemäß den Regulierungen bestraft. Ihr Verhalten wird in ihrem individuellen Sozialkreditsystem erfasst." Die Drohung schallt den Passagieren in China in vielen Hochgeschwindigkeitszügen entgegen. Peking bewertet jeden Bürger aufgrund seines Verhaltens und seiner finanziellen Situation, Schwarzfahren wird mit Negativpunkten geahndet. Ins Gefängnis müssen Schwarzfahrer nicht, stattdessen droht ihnen der schleichende Ausschluss vom sozialen Leben - ganz ohne vergitterte Fenster. Mehrere Millionen Menschen dürfen bereits keinen Schnellzug mehr fahren oder mit dem Flugzeug fliegen. Ihnen drohen schlechtere Kreditkonditionen, ihre Kinder erhalten keine Uni-Zulassung. Dass es zum Äußersten kommt, liegt aber eher nicht am Schwarzfahren, sondern daran, dass die Leute Schulden oder rechtliche Probleme haben. Das Fahren ohne Ticket ist da nur ein kleiner Mosaikstein. Um ohne Karte in einen Zug oder eine Bahn zu kommen, braucht es akrobatische Künste, weil man vor Dutzenden Kameras und den Augen des Sicherheitspersonals durch ein Drehkreuz muss. Den Bürgern vertrauen, dass sie ein Ticket kaufen? Kontrolle ist besser. Klar, es springt mal jemand darüber. Aber während der Stoßzeiten reicht der Platz sowieso nicht zum Springen. Laut offiziellen Zahlen drängen sich dort dann bis zu zehn Personen pro Quadratmeter. Einige Städte wie Peking arbeiten trotzdem bereits an einer Alternative: dem Bezahlen per Gesichtserkennung. Das funktioniert dann wie bei Verkehrskontrollen, bei denen erste Polizeieinheiten nicht mehr den Ausweis scannen, sondern das Gesicht. Lea Deuber, SZ-Korrespondentin für die Volksrepublik China

Über die Planka

Der öffentliche Nahverkehr in Stockholm ist gut organisiert und simpel zu bezahlen, seit die Betreibergesellschaft SL die Zonen abgeschafft hat. 890 Kronen, umgerechnet knapp 85 Euro kostet das normale Monatsticket, Jugendliche, Studenten oder Rentner zahlen 590 Kronen. Wer beim Schwarzfahren erwischt wird, zahlt happige 1500 Kronen, etwa 144 Euro. Allzu oft passiert das aber offenbar nicht - in Stockholm und Göteborg haben sich die Schwarzfahrer schon 2001 in der Gruppe Planka.nu organisiert: Mitglieder zahlen 100 Kronen, etwa zehn Euro, im Monat in eine Art Versicherung ein, die dann die Strafe bezahlt, wenn man gefasst wird. Der Name der Gruppe kommt von dem Wort Planka, der Barriere, die es zu überklimmen gilt. Planka.nu heißt also: Schwarzfahren jetzt, die Gruppe ist höchst politisch und öffentlich und wirbt für kostenlosen Nahverkehr. Dabei kommt ihr der Umstand zugute, dass Schwarzfahren in Schweden kein krimineller Akt ist, für den man im Gefängnis landen könnte. Allerdings kündigten die Behörden an, die Zahl der Kontrollen in diesem Jahr zu verdoppeln, auf dann fünf Millionen. Im vergangenen Jahr hatten die Kontrolleure 30 000 Bußgeldbescheide ausgestellt. Kai Strittmatter, SZ-Korrespondent für Skandinavien und das Baltikum

Flensburg auf Chilenisch

Schwarzfahren gilt bei manchen, vor allem jüngeren Einwohnern Santiago de Chiles als politisches Statement, seit dort vor knapp einer Dekade das System "Transantiago" eingeführt wurde. Die völlige Umstellung von Linien, Fuhrpark und Tarifsystem führte damals zu chaotischen Zuständen, die viele Chilenen der Regierung nicht verziehen haben. Auch wenn der öffentliche Nahverkehr Santiagos inzwischen sehr viel besser funktioniert als in vielen anderen lateinamerikanischen Metropolen, liegt die Schwarzfahrerquote noch immer bei gut 30 Prozent. Das hat natürlich nicht nur mit politischer Unzufriedenheit zu tun, sondern auch mit dem starken Einkommensgefälle. Die Fahrpreise werden dem Preisindex angepasst, richten sich also nach Treibstoff- und Unterhaltskosten für den Fuhrpark. Bezahlt wird mit einer elektronischen Prepaid-Karte. Wer beim Schwarzfahren erwischt wird, zahlt umgerechnet zwischen 60 und 90 Euro Strafe, das ist viel angesichts eines chilenischen Durchschnittseinkommens von 12 000 Euro im Jahr. Schwarzfahrer, die nicht sofort ihre Strafe zahlen, riskieren den Eintrag in ein Verkehrssünder-Register, eine Art chilenischer Entsprechung zur Flensburger Kartei. Ihnen drohen schärfere Strafen und Maßnahmen, etwa, dass der Führerschein nicht verlängert wird oder der Staat Steuerrückzahlungen einbehält. Der konservative chilenische Staatschef Sebastián Piñera versucht, gegen die Unbeliebtheit des Transportsystems mit Wort-Kosmetik vorzugehen: Transantiago wurde gerade erst in "Red" (zu deutsch: Netz) umbenannt. Das alte System der Vorgängerregierung habe "zu viel Leid" über die Bürger gebracht. In der Frage, ob der neue Name dazu führt, die Beförderungserschleichung zu verringern, sehen viele Kritiker allerdings schwarz. Sebastian Schoepp, SZ-Redakteur im Ressort Außenpolitik

Daladala

Sie sind klapprig, aber schneller und wendiger, als man erwartet: die Minibusse, die in Ostafrika den Nahverkehr übernehmen. In Tansania heißen sie "Daladala" und gehören meistens privaten Unternehmern. Ein öffentliches Transportwesen existiert praktisch nicht. Entsprechend sind die Regeln auf den Daladala-Routen: Der Bus fährt los, wenn er brechend voll ist, und der Preis - ein paar Hundert Tansanische Schilling - steigt bei großer Nachfrage. Schwarzfahren ist in diesem System so gut wie unmöglich. Denn neben dem Busfahrer fährt in jedem Daladala ein Conductor mit: eine Art Schaffner, der den Wartenden an der Haltestelle Route und Preis zuruft, die Tür öffnet und schließt - und dann während der Fahrt in bar kassiert. Vor jedem Passagier lässt er die Münzen in seiner Hand springen: eine unmissverständliche Zahlungsaufforderung. Wer etwas länger braucht, um sein Kleingeld hervorzukramen, sollte nicht darauf hoffen, vergessen zu werden - die Hand mit den klingelnden Geldstücken kommt garantiert ein zweites Mal vorbei. Mal nichts Bares dabei? Sogar in diesem Fall kann der Conductormit seinem Geld rechnen. Die Zahlungsmoral in den tansanischen Minibussen ist so hoch, dass sich oft jemand findet, der für den bargeldlosen Passagier mitbezahlt. Isabel Pfaff, SZ-Korrespondentin für die Schweiz

Durch den Notausgang

Wer in New York schwarzfahren will, muss entweder sportlich sein oder aber dreist: Die Drehkreuze an den Zugängen zu den U-Bahnsteigen lassen sich, außer mit Hilfe der Metrocard, nur durch einen beherzten Bocksprung überwinden. Oder aber man schleicht heimlich durch den Notausgang hinein, wenn jemand diesen von innen öffnet, zum Beispiel ein Vater mit Kinderwagen. Jugendliche starten oft eine Kombi-Attacke: Einer macht den Bocksprung - und sperrt den anderen den vergitterten Notausgang auf. In Bussen steigen gerade junge Männer gern hinten ein oder gehen vorne einfach durch: Viele Busfahrer schauen aus Angst vor Ärger weg.

Nach offiziellen Schätzungen fahren täglich 210 000 der 5,2 Millionen U-Bahn-Nutzer schwarz, bei Bussen ist die Quote mit 350 000 von 2,2 Millionen Kunden noch deutlich höher. Der Betreibergesellschaft MTA entsteht ein jährlicher Schaden von zuletzt 215 Millionen Dollar. Wer beim Schwarzfahren erwischt wird, zahlt theoretisch 100 Dollar Strafe, Serientätern droht gar bis zu ein Jahr Gefängnis. De facto aber wird kaum jemand erwischt. Andy Byford, Präsident der New Yorker Nahverkehrsbehörde NYCT, will jetzt zum Äußersten greifen, um des Problems Herr zu werden: Mitglieder der MTA-Hauptverwaltung, die sonst die Bücher führen und Fahrpläne ausarbeiten, sollen verpflichtet werden, ab und zu in Bahnhöfen zu patrouillieren und Beförderungserschleicher am "Bocksprung" zu hindern - indem sie sich mit ihrem Körper in die Flugbahn werfen. Zur Sicherheit soll im Hintergrund Verstärkung bereitstehen. Claus Hulverscheidt, USA-Korrespondent der SZ in New York.

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