Nato:Gefahr lauert auch im Weißen Haus

  • 930 Millionen Menschen leben in den 29 Mitgliedsländern der Nato, sie produzieren die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung.
  • 70 Jahre ist die Nato jetzt alt und keine Militärallianz in der Geschichte war so langlebig.
  • Aber fast unbemerkt ist neben Russland eine weitere Macht in den Fokus der Militärallianz gerückt: China.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Zahlen sprechen für sich - und für die Nato. 70 Jahre ist das Bündnis jetzt alt, keine Militärallianz in der Geschichte war so langlebig und erfolgreich. 930 Millionen Menschen leben in ihren 29 Mitgliedsländern, sie produzieren die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Im Kalten Krieg sicherte sie Frieden und Stabilität in Westeuropa. Dass seit dem Zerfall der Sowjetunion 13 mittel- und osteuropäische Staaten der Nato beigetreten sind, zeigt ihre ungebrochene Attraktivität. Zwölf Staaten waren es zu Beginn, am 4. April 1949. Nordmazedonien wird bald Mitglied Nummer 30.

"Bei uns gibt es keinen Brexit, mehrere Länder wollen rein in die Nato", sagt Ben Hodges vom Thinktank Cepa. Der General war bis Ende 2017 Oberbefehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa. Er weiß, was die Nato den Osteuropäern bedeutet: Schutz durch Amerika. So entbehrt es nicht der Ironie, dass ausgerechnet zum runden Geburtstag eine existenzielle Gefahr für das Bündnis in Washington lauert, mitten im Weißen Haus. "Die größte Herausforderung ist, dass erstmals ein US-Präsident die Nato nicht aus Überzeugung unterstützt und anführt", schreiben Nicholas Burns und Douglas Lute, zwei ehemalige US-Botschafter bei der Nato, in einer Studie mit dem Titel "Allianz in der Krise".

Was Donald Trump stört, ist bekannt: Die Verbündeten in Kanada und Europa nutzen Amerikas Stärke angeblich aus und investieren zu wenig in ihre Armeen. "Lastenteilung" heißt das heikle Thema im Nato-Sprech, und es wird beim Mittagessen der Nato-Außenminister am Donnerstag in Washington und bei Trumps Treffen mit Generalsekretär Jens Stoltenberg viel Raum einnehmen. Auch wenn der Norweger stets beschwichtigt: "Die Sorge, was der nächste Tweet anrichten könnte, ist immer da", sagt ein Diplomat über die Angst vor Trumps Eskapaden.

Ex-General Hodges sieht es so: "Natürlich hilft es nicht, wenn ein US-Präsident Artikel 5 in Frage stellt, wonach ein Angriff auf ein Nato-Mitglied als Angriff auf alle zu werten ist." Das hatte Trump 2018 getan, als er über Neumitglied Montenegro sprach. Wichtiger ist für Hodges aber, dass Washington weiterhin Soldaten und Ausrüstung verlagere und viel Geld investiere: Allein 2019 steckt Washington 6,4 Milliarden Dollar in die "European Deterrence Initiative", ein bereits vor fünf Jahren verabredetes Programm.

"Die Südeuropäer nehmen Russland plötzlich anders wahr"

Wer damit abgeschreckt werden soll, ist klar: Russland. Bereits der Georgien-Krieg 2008 nährte die Zweifel an Russlands Friedfertigkeit. Die von Präsident Wladimir Putin 2014 angeordnete Annexion der zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim hat die Nato gezwungen, sich zu reformieren und wieder mehr in ihre Defensivfähigkeiten zu investieren. Dieser Prozess wird noch Jahre dauern, die Zwischenbilanz aber kann sich sehen lassen. In allen baltischen Staaten und in Polen sind multinationale Kampfverbände mit etwa tausend Soldaten stationiert, um die Partner zu schützen.

Die Ziele sind ambitioniert: Schon im kommenden Jahr will die Nato sicherstellen, dass 30 Infanteriebataillone, 30 Kampfschiffe und 30 Kampfflugzeugstaffeln innerhalb von nur 30 Tagen einsatzbereit sein können. Dass diese - teure - Selbstverpflichtung der Staats- und Regierungschefs vom Juli 2018 kaum bekannt ist, liegt an Trump: Dessen Drohung, aus der Allianz auszusteigen, dominierte die Berichterstattung über den damaligen Nato-Gipfel. Alle tatsächlichen Beschlüsse rückten in den Hintergrund.

In Washington werden die Außenminister am Donnerstag zudem über Moskaus hybride Kriegsführung diskutieren, also über Geheimdienstoperationen und Hacker-Angriffe. Desinformationskampagnen in sozialen Netzwerken sollen Wahlen beeinflussen und die Einheit der Partner untergraben. Die Nato will die eigenen Cyberfähigkeiten, sowohl defensiv als auch offensiv, professioneller machen. Das wird auf Jahre eine Priorität des Bündnisses sein. Thema ist auch der INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern, den Moskau nach Überzeugung Washingtons seit Jahren bricht und den einseitig zuerst die USA und dann wenig später Russland aufgekündigt haben.

Nach erstem Entsetzen über Trumps anfänglichen Alleingang stehen die Partner hinter Washington. Beschlüsse allerdings werden die Minister nicht treffen. Allerdings werden sie die neue Bedrohungslage analysieren, in der russische Atomraketen nahezu jeden Punkt Europas treffen können. "Für uns ist das nicht neu, aber die Südeuropäer nehmen Russland plötzlich anders wahr", sagt ein osteuropäischer Top-Diplomat. Die neue Verwundbarkeit, gepaart mit Putins autokratischen Tendenzen, führt dazu, dass die Nato ihre Defensivstrategie auf absehbare Zeit an Moskau ausrichten wird.

Doch fast unbemerkt ist noch eine weitere Macht in den Fokus der Militärallianz gerückt: China. US-Außenminister Mike Pompeo dürfte auf eine einheitliche Haltung drängen - vor allem beim neuen Mobilfunkstandard 5G und der Frage, ob dafür Equipment von Huawei angeschafft werden kann, ohne Spionage und Datenklau zu riskieren. Die Trump-Regierung sieht Chinas "Belt and Road Initiative" mit großer Skepsis und warnt die Europäer, bei wichtigen Infrastrukturprojekten mit dem Land zusammenzuarbeiten. Gerade Häfen sind für die Verlagerung von Militärgerät von enormer Bedeutung - und je größer Pekings ökonomischer Einfluss, umso eher könnte ein Nato-Mitglied sich veranlasst sehen, auf Druck der Chinesen per Veto Entscheidungen zu blockieren.

Dass die Nato Chinas Armee genau beobachtet, liegt auch an den neuen Technologien. Schon heute ist Pekings Verteidigungsetat zum zweitgrößten weltweit angewachsen, Experten fürchten, dass China den Westen bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotik oder autonomen Waffen abhängt. Enge Kooperation der Nato-Staaten und abgestimmte Investitionen in Milliardenhöhe sind nötig, um mitzuhalten und ethische Standards setzen zu können. Bedarf also für die Zusammenarbeit in der Nato gäbe es auch weiterhin.

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