Biografie:Feministisch kochen

Künstlerin Ingrid Wiener

Das Kochen ist kein Rückzug von der Kunst, sondern ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln: die österreichische Künstlerin Ingrid Wiener.

(Foto: INTERFOTO)

Was ist das Geheimnis des selbstbestimmten Lebens? Die Journalistin Carolin Würfel hat ein Buch über die Künstlerin, Köchin und Emanzipationspionierin Ingrid Wiener geschrieben

Von Luise Checchin

Auf der Website des Kreuzberger Restaurants Horváth lernt man, dass an dieser Stelle, am Paul-Lincke-Ufer 44 a, "der österreichische Philosoph und Schriftsteller Oswald Wiener 1973 das 'Exil' gründete". Von der Frau, die damals in der Küche dieses Szene-Schuppens stand und nach deren Gerichten sich die Berliner Boheme von Max Frisch bis David Bowie die Finger leckte, erfährt man nichts. Das ist eine Schande, und schon deshalb ist das Buch der Journalistin Carolin Würfel über "Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung" eine gute Idee.

Würfels Porträt ist ein schlankes Buch geworden, gerade einmal 190 Seiten lang. Atemlos folgt man der Autorin durch die biografischen Stationen ihrer Protagonistin: Wie die lebenshungrige Ingrid Wiener im miefigen Nachkriegs-Österreich aufwächst, wie sie Ende der Fünfzigerjahre in den Kreis der skandalumwitterten "Wiener Gruppe" eintritt und dann, nachdem sie 1969 mit ihrem polizeilich gesuchten Mann Oswald Wiener nach Deutschland geflohen ist, die Bouletten gewöhnte West-Berliner Gastronomie aufmischt.

Würfel will keine letztgültige Biografie über Wiener schreiben, sondern ihre Sicht auf die Person Ingrid Wiener einfangen. Biografische Anekdoten stehen neben Begegnungen mit der Jetztzeit-Ingrid-Wiener und werden verschränkt mit essayistischen Passagen. Mitunter wirken diese persönlichen Reflexionen etwas mechanisch, meistens aber sind sie bereichernd: Hier schaut eine Anfang 30-Jährige auf eine Ende 70-Jährige und erkennt sich in der Frage wieder, was es eigentlich heißt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Die Geschichte Wieners, wie sie Würfel erzählt, ist eine Emanzipationsgeschichte, selbst wenn sie für einige nicht so aussehen mag. Da ist auf der einen Seite eine Frau, die sich im Weben ausbilden lässt, die jahrelang ihre Kunst ruhen lässt, um zu kochen, und die von den berühmten Männern, die sie umgeben, oft unterschätzt wird (was diese nicht davon abhält, ihr scharenweise zu verfallen). Auf der anderen Seite ist da eine Frau, die sich nimmt, was sie will, und sich dabei kein bisschen um gesellschaftliche Konventionen kümmert, selbst wenn das bedeutet, mit fünfzehn Jahren Übungsstunden bei einem Zuhälter zu nehmen, um die Sache mit dem Sex endlich zu durchschauen, oder in anarchistischen Kunstaktionen das Publikum zum Kreischen zu bringen.

Feministinnen wollten Wiener aus ihrer angeblichen Unmündigkeit befreien

Für Würfel sind diese beiden Seiten freilich kein Widerspruch, sondern nur unterschiedliche Facetten desselben Freiheitsdrangs. Die Ideen der berühmten Männer nutzte Wiener aus Würfels Sicht vor allem, um den eigenen künstlerischen Ansatz zu schärfen. So inspirierte sie etwa der Künstler Dieter Roth zu dem Verfahren, scheinbar banale Alltagsgegenstände in aufwendig gewebten Gobelins abzubilden. Das Unterschätztwerden gab ihr immerhin die Möglichkeit, Distanz und damit einen gewissen Weitblick zu wahren (in einer Szene, die Ende der Sechzigerjahre spielt, bekommt Ingrid Wiener einen Lachanfall, als ihr Mann während einer Diskussion wie wild geworden die "Totalrevolution" ausruft).

Das Kochen wiederum ist für Würfel kein Rückzug von der Kunst, sondern ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln. Eine Interpretation, die damals, als Wiener noch in der Küche stand, nicht allen einleuchten wollte. Irgendwann während der Zeit im "Exil", so erzählt Würfel es, verschaffte sich eine Gruppe von Feministinnen Einlass in die Küche, um Wiener aus ihrer angeblichen Unmündigkeit zu befreien. Dass Wiener sich keinesfalls hinter den Herd verbannt sah, dass sie bessere Arbeitszeiten hatte als ihre beiden Geschäftspartner und trotzdem den gleichen Gewinn einstrich, wollten sie nicht hören.

Dabei ist es nicht zuletzt dieser Aspekt, der Würfels Porträt so interessant macht: Die "Befreiung", die Ingrid Wiener sucht, ist immer ein individuelles Projekt, kein gemeinschaftlicher Kampf für eine höhere Sache. Würfel lässt diesem Ansatz viel Raum, zeigt aber auch, wo er an seine Grenzen stößt.

Wieso bricht das Buch ab, wenn es um Wieners Kunst gehen könnte?

Denn natürlich erfährt auch Wiener in ihrem Leben systematische Misogynie: Als sie dreizehn ist, entscheidet ihr Lehrer, dass sie nichts auf dem Gymnasium zu suchen hat, ihre Schönheit könnte die Mitschüler vom Lernen abhalten. Als sie Anfang dreißig ist, vergewaltigen sie zwei amerikanische Soldaten im Grunewald. Der Polizist, bei dem sie danach Anzeige erstattet, findet das nicht verwunderlich, immerhin habe sie ja einen Minirock getragen. Dieses Erlebnis ist das Einzige, das Wiener in ihren eigenen Worten schildert. Es sind verstörende anderthalb Seiten, aber eben auch nicht mehr - ganz so, als wolle die Erzählende klar machen, dass sie die Kontrolle über das Ereignis behält und es nur den Raum in ihrer Lebensgeschichte einnehmen darf, den sie ihm zugesteht.

Eine andere dramaturgische Entscheidung des Buchs ist derweil schwerer nachzuvollziehen. Würfel lässt ihr Porträt Mitte der Achtzigerjahre enden, als Wiener mit ihrem Mann in die kanadische Wildnis auswandert. Dabei ist dies, wie es auf einer der letzten Seiten heißt, genau der Punkt, an dem Wiener zum ersten Mal in ihrem Leben Zeit hat, "sich ausgiebig der Kunst zu widmen und intensiv über ihren Schaffensprozess nachzudenken".

Wie sah dieses Nachdenken aus? Was ist dabei herausgekommen? Seltsam, wie lakonisch Würfel über diesen biografischen Wendepunkt hinweggeht. Lautete die Behauptung eingangs nicht, dass sich dieses Buch gerade mit dem Werk Ingrid Wieners beschäftigen möchte und eben nicht mit den berühmten Männern, mit denen sie sich umgab? Wieso bricht die Erzählung dann genau an der Stelle ab, in dem all die Wiener und Berliner Intellektuellen in den Hintergrund treten und es einzig und allein um die Künstlerin und ihr Schaffen gehen könnte?

Andererseits spricht aus dem Bedauern auch ein Kompliment: Die Lebensgeschichte der Ingrid Wiener ist eben derart fesselnd, dass man gerne noch mehr davon erfahren hätte. Und so hat Würfels Porträt etwas von einem Kurzfilm, der auch genug Stoff für eine Serie hergegeben hätte - mit mehreren Staffeln und großem Suchtpotenzial.

Carolin Würfel: Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung. Hanser Berlin, Berlin 2019. 192 Seiten, 22 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: