Neues Wohngebiet:"Die Stadt darf nicht um Grundstücke betteln müssen"

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Bei einer Diskussionsveranstaltung im Februar meldeten sich viele Bürger zu Wort und kritisierten die SEM-Pläne der Stadt. (Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Im Nordosten Münchens soll ein neues Quartier für bis zu 30 000 Menschen entstehen.
  • Die Stadt will das als sogenannte Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) realisieren - auch wenn das von vielen kritisiert wird.
  • Das Bündnis "Pro SEM" bringt nun die Idee eines Bürgerentscheids ins Spiel, um so der Stadt zu ermöglichen, als Ultima Ratio Grundstückseigentümer zu enteignen.

Von Sebastian Krass

In der Debatte um die geplante Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) für den Münchner Nordosten bringt das Bündnis "Pro SEM" die Idee eines Bürgerentscheids ins Spiel, um so der Stadt die Möglichkeit zu geben, als Ultima Ratio Grundstückseigentümer zu enteignen. Derzeit schließt die Stadtratsmehrheit aus CSU und SPD Enteignungen aus. Um im Nordosten dringend den benötigen bezahlbaren Wohnraum für bis zu 30 000 Menschen zu schaffen, brauche die Stadt aber dieses Druckmittel, sagte Christian Stupka, einer der Sprecher von "Pro SEM", am Mittwoch auf einer Pressekonferenz.

"Die Stadt darf nicht in die Position kommen, um Grundstücke betteln zu müssen", betonte Stupka. "Und wenn die Bürger es wollen", dann könnten sie der Stadt das Druckmittel in die Hand geben. Derzeit habe man aber noch keine konkreten Pläne, einen Bürgerentscheid in die Wege zu leiten. Möglicherweise werde die Kommunalwahl im kommenden Jahr zu einer neuen Positionierung im Stadtrat führen, hofft "Pro SEM".

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Die Grünen etwa, denen bei der anstehenden Wahl starke Zuwächse vorhergesagt werden, haben sich kürzlich auf einem Parteitag zum Instrument der SEM bekannt. Die SPD will die SEM zwar auch, Oberbürgermeister Dieter Reiter aber schließt Enteignungen aus. Die CSU stimmte Anfang Februar im Stadtrat noch dafür, mit einem städtebaulichen Ideenwettbewerb die SEM weiter vorzubereiten, ebenfalls mit dem Zusatz, dass Enteignungen nicht infrage kommen. Zwei Wochen später verkündete Fraktionschef Manuel Pretzl eine generelle Abkehr von der SEM.

Zum Bündnis "Pro SEM" gehören inzwischen der DGB München, Mietervereine, Genossenschaften, Wohlfahrtsverbände und "München Sozial" mit seinen 66 Organisationen. Die Sprecher gehen auch deshalb davon aus, dass eine Mehrheit der Münchner im Zweifel die ebenfalls gut organisierten SEM-Gegner im Nordosten und deren Unterstützer überstimmen würden. Stupka verwies auf eine im März veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der Bild-Zeitung, derzufolge 64 Prozent der Münchner für eine SEM im Nordosten sind. "Jeder Politiker hat die Möglichkeit dazuzulernen und seine Meinung zu ändern", so Stupka. Stephan Reiß-Schmidt, ehemaliger Stadtdirektor im Planungsreferat, ergänzte: "Die SEM ist kein Folterinstrument, sondern ein rechtsstaatliches Instrument."

Die im Baugesetzbuch festgeschriebene SEM ist dazu gedacht, ein großes Gebiet mit vielen Eigentümern zu überplanen. Die Gewinne, die durch die Schaffung von Baurecht entstehen, dienen zunächst dem Bau von Infrastruktur, etwa U-Bahnen und Schulen. Wenn am Ende etwas übrig bleibt, bekommen das die Alt-Eigentümer ausgezahlt. Die SEM ist auf Kooperation angelegt. Wenn Eigentümer sich sperren und damit das Projekt gefährden, können sie letztlich enteignet werden. In München geht es um ein 600 Hektar großes, weitgehend unbebautes Areal östlich von Daglfing, Englschalking und Johanneskirchen. 2011 hat der Stadtrat die Einleitung der SEM beschlossen. Damit einher ging ein Einfrieren der Bodenpreise.

Freiburg als Vorbild

"Pro SEM" zeigte am Mittwoch auch auf, wie aus ihrer Sicht der Ankauf der Grundstücke funktionieren könnte. Die Aktivisten bezogen sich dabei auf die Entwicklung des Stadtteils Dietenbach in Freiburg mit einer SEM. Dort gebe es ein "Kooperationsmodell", erklärte Reiß-Schmidt. Eigentlich hätte die Stadt den Eigentümern nur den gutachterlich ermittelten Preis von 15 Euro pro Quadratmeter für Ackerland zahlen dürfen. Das aber hätte böses Blut geschaffen. Also erfand man einen Umweg: Eine eigens gegründete Gesellschaft der Sparkasse zahlt den Eigentümern 64 Euro pro Quadratmeter und gibt die Grundstücke weiter an die Stadt. Darauf hätten sich fast alle Eigentümer auf dem 130 Hektar großen Areal eingelassen, erläutert Reiß-Schmidt. Nur für etwa acht Hektar müssten Enteignungen eingeleitet werden, die Entschädigung bemisst sich dann nach dem Bodenpreis für Äcker.

Reiß-Schmidt übertrug das Modell in einem Gedankenspiel auf München: Der Preis für den Quadratmeter Ackerland liege in Oberbayern bei 11,60 Euro, in München womöglich etwas höher. Biete man den Eigentümern beispielsweise 80 Euro, dann würden viele mitmachen, glaubt er. Für einen Hektar wären das 800 000 Euro. Wenn daraus Bauland für frei finanzierten Wohnungsbau würde, läge der Wert derzeit bei etwa 5000 Euro pro Quadratmeter. Mit der SEM ließen sich so Hunderte Millionen Euro für die Infrastruktur erlösen, glauben die Unterstützer.

Die SEM ist aus Sicht des Bündnisses die einzig praktikable Möglichkeit für den Nordosten. Dann entstünden 90 Prozent geförderter oder preisgedämpfter Wohnungsbau mit einer Bindungsfrist von bis zu 60 Jahren. Arbeite man hingegen mit den Regeln der sozialgerechten Bodennutzung (Sobon), dann wären nur 40 Prozent gefördert oder preisgedämpft, und die Bindung laufe nur 25 Jahre. Außerdem sei es illusorisch, "auf einem so großen Gebiet mit mehr als 100 Eigentümern Verträge nach Sobon abzuschließen", sagt Reiß-Schmidt.

"Pro SEM" äußert Verständnis für die Anliegen der SEM-kritischen Grundeigentümer. Insbesondere die Landwirte fragen sich, ob sie noch in ihre Betriebe investieren sollen. Deshalb solle die Stadt "außerhalb der Verwaltung eine Anlaufstelle für alle interessierten Eigentümer" einrichten. Die Stelle solle "mit Experten in Sachen Steuerrecht und Erbrecht" besetzt sein und vertraulich Auskünfte für mögliche Verhandlungen mit der Stadt geben.

© SZ vom 04.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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