Kriminalität:"Das war ein klarer Fehler"

Sondersitzung Innenausschuss im Landtag NRW

Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen.

(Foto: Federico Gambarini/dpa)
  • Im Zuge der Aufarbeitung des tausendfachen Kindesmissbrauchs auf dem Campingplatz von Lügde werden aktuell sämtliche laufende Verfahren wegen Kindesmissbrauchs in Ostwestfalen-Lippe durchleuchtet.
  • Der jetzt bekanntgewordene Fall des Physiotherapeuten aus Bad Oeynhausen war der zuständigen Kreispolizeibehörde Minden-Lübbecke seit 17 Monaten bekannt.
  • Die Polizei stand drei Mal vor der Haustür des Mannes um dessen Wohn- und Arbeitsräume zu durchsuchen - und fuhr unverrichteter Dinge wieder fort.

Von Jana Stegemann, Düsseldorf

Schon wieder musste Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags öffentlich "meine geliebte Polizei" kritisieren. Gemeint war diesmal nicht der Missbrauch von Lügde, sondern ein neuer Fall, der ein schlechtes Licht auf die NRW-Polizei wirft: Hat eine Kreispolizeibehörde in Ostwestfalen erneut entscheidende Fehler in einem Ermittlungsverfahren gemacht? Im Zuge der Aufarbeitung des tausendfachen Kindesmissbrauchs auf dem Campingplatz von Lügde werden aktuell sämtliche laufende Verfahren wegen Kindesmissbrauchs in Ostwestfalen-Lippe durchleuchtet.

In dem am Donnerstag bekannt gewordenen Fall geht es um einen Heilpraktiker und Physiotherapeuten aus Bad Oeynhausen, der in seiner Praxis bei Behandlungen mehrmals pornografische Fotos von mindestens zwei Kindern unter 14 Jahren gemacht haben soll. Dem 60-jährigen Familienvater wird zudem der Besitz von kinder-pornografischen Dateien vorgeworfen. Erst seit einer Woche sitzt der Therapeut in Untersuchungshaft - sein Fall war der zuständigen Kreispolizeibehörde Minden-Lübbecke aber seit 17 Monaten bekannt.

Den entscheidenden Hinweis auf den Physiotherapeuten hatte ein IT-Fachmann aus Baden-Württemberg den ostwestfälischen Polizisten schon im November 2017 gegeben. Der Spezialist hatte per Fernwartung den Computer des Therapeuten repariert - und dabei offenbar kinderpornografische Dateien entdeckt. Er übergab die Bilder der Polizei in seiner Heimatstadt Ludwigsburg. Diese übermittelten die verdächtigen Dateien direkt an das zuständige Kriminalkommissariat der Kreispolizei Minden-Lübbecke. Mehrere Monate geschah nichts, im Februar/März 2018 wurde dann beim Amtsgericht Bielefeld ein Durchsuchungsbeschluss für Wohn- und Arbeitsräume des Physiotherapeuten erwirkt. Doch weil die ostwestfälischen Polizisten den Mann weder im Mai noch im Juli 2018 zu Hause antrafen, passierte nichts. Nur der Durchsuchungsbeschluss lief ab und musste neu beantragt werden. Erst beim vierten Durchsuchungsversuch am 8. März 2019 sei der Mann angetroffen und "umfangreiches Beweismaterial, insbesondere Mobiltelefone, Computer und andere Datenträger" sichergestellt worden.

Die schleppende Aufklärung erklärt Reul (CDU) mit "ermittlungstaktischen Gründen". Der Minister, der seit dem Fall Lügde politisch unter Druck steht und zunehmend gereizter auftritt, räumte ein, dass "14 Monate vom Eingang des Verfahrens bis zur ersten erfolgreichen Durchsuchung" eine "lange Beobachtungszeit" sei - auch wenn die Kreispolizei Minden-Lübbecke derzeit 50 andere Kinderpornografie-Verfahren zu bearbeiten habe. "So schlimm es ist, der Besitz von Kinderpornografie ist im Zeitalter des Internets zum Massendelikt geworden." In der Rückschau des Falls sei aber klar, dass vor dem Hintergrund des Berufs des Beschuldigten "die Bearbeitung des Falls hätte höher priorisiert" werden müssen. "Das war ein klarer Fehler", sagte Reul. Erst vergangenen Donnerstag war NRWs oberster Polizeichef zur Besänftigungsreise nach Ostwestfalen-Lippe aufgebrochen, wo er stundenlang mit Mitgliedern der Kreispolizei Lippe hinter verschlossenen Türen gesprochen hatte, nachdem sich diese über die Generalkritik des Ministers beschwert hatten.

Dass die Polizisten im Fall des Therapeuten dreimal vor verschlossener Tür standen und nichts weiter unternahmen, hält der Minister aber für "grundsätzlich nachvollziehbar". Diese Einschätzung beruhe auf der Erfahrung der Ermittler, dass Konsumenten von Kinderpornografie entsprechende Daten häufig bei sich tragen: "Weil sie dann natürlich immer und überall Zugriff darauf haben. Und eben nicht nur dann, wenn sie Zuhause am PC sitzen".

Auch dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf die zersplitterte Polizeistruktur und das von der Opposition kritisierte "Zuständigkeitschaos" bei der NRW-Polizei. Als letztes Bundesland leistet sich NRW 47 Kreispolizeibehörden: 18 größere arbeiten als Präsidien, 29 kleinere werden vom jeweiligen Landrat als Polizeichef geführt. Die neu geschaffene Stabsstelle solle bei der Analyse des Lügde-Falls daher auch klären, ob es "Veränderungen in allen Polizeibehörden in NRW geben müsse", sagte Reul

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