Gastkommentar:Putin in Not

Die sinkenden Beliebtheitswerte sind eine ernsthafte Bedrohung für das Regime des russischen Präsidenten.

Von Michail Chodorkowski

Die scheinbar unbegrenzte Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten Russlands gibt dem Ausland gute Gründe, sich Sorgen zu machen. Nicht zuletzt, weil Russland eine der zwei größten Nuklearmächte bleibt und Putins Devise lautet: "Wir kommen als Märtyrer in den Himmel, und die Angreifer werden einfach sterben."

Die Sorgen der russischen Bevölkerung sind eher praktischer Art: die ungeliebte Rentenreform; der stagnierende Lebensstandard; teure Spekulationen im Ausland auf Kosten russischer Regionalinteressen; die offensichtliche finanzielle Bevorteilung der für die Machthaber wichtigen Regionen, vor allem Moskaus und Tschetscheniens. All das schwächt Putins Umfragewerte, die durch umfassende Propaganda und zehn Jahre reges Wirtschaftswachstum dank steigender Erdölpreise bis 2009 in die Höhe getrieben wurden. Nach wirtschaftlichem Einbruch und Krisenzeiten blieb das Wachstum die letzten fünf Jahre gänzlich aus, trotz eines weltweiten Wirtschaftsbooms. Auch die außenpolitischen Erfolge lassen zu wünschen übrig. Es gelang nicht, die russische Bevölkerung für die Rettung des Assad-Regimes in Syrien zu begeistern, die Enthüllungen über die hoffnungslos verlorenen Investitionen in Venezuela haben zusätzliche Irritation in der Gesellschaft hervorgerufen.

Beliebtheitswerte von 30 bis 40 Prozent lassen an der "allgemeinen Zustimmung" zweifeln, auf die sich das autoritäre Regime stützt. Der Machtanspruch lässt sich nur mit Gewalt aufrechterhalten, das ist schlecht für die Herrschenden. Nicht wegen humanistischer Werte, in einem autoritären Regime spielen sie keine Rolle. Das Verhängnis besteht in wachsender Abhängigkeit von Generälen und dem Misstrauen dieser Generäle gegenüber der Loyalität ihrer Offiziere.

Das Ausmaß, in dem der Inlandsgeheimdienst FSB die Regierungsstrukturen infiltriert, sprengt bereits jeden vertretbaren Rahmen. Um den Beliebtheitswerten auf die Sprünge zu helfen, gäbe es für Putin die Möglichkeit, die unbeliebte Regierung abzusetzen, aber auch das birgt Tücken. Der Vorsitzende der Regierung würde vom Tod des Staatsoberhaupts am meisten profitieren - deshalb wäre die Option, Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew durch einen Günstling des Geheimdienstes auszutauschen, der gewohnt ist zu töten, eine ungeheure persönliche Bedrohung für Putin.

Wie ich vor Jahren im Gefängnis vorhergesagt habe, kämpft das Regime seit 2014 mit gravierenden Problemen. Die kurzfristige Stabilisierung durch die Annexion der Krim ist Vergangenheit. Die neue außenpolitische, militärische Verstrickung ruft im Volk keinen Enthusiasmus hervor. Ein Regierungswechsel ist riskant. Ein Wirtschaftswachstum ist nur auf dem Papier des russischen Statistikdienstes sichtbar. So kann sich jedes unerwartete Problem für das Regime als fatal entpuppen.

Es gibt einen Ausweg, allerdings ist auch dieser sehr gewagt: der Anschluss der Republik Belarus "im gegenseitigen Einvernehmen". Präsident Lukaschenko müsste zustimmen, dass in der totgeborenen Russisch-Belarussischen Union das Amt eines Unionspräsidenten für Wladimir Putin eingeführt wird und sich Belarus damit faktisch in die Russische Föderation eingliedert. Genau an diesem Projekt wird derzeit gearbeitet.

Der Unternehmer Michail Chodorkowski, 55, musste Russland nach seiner Freilassung 2013 verlassen und lebt in Großbritannien.

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