Menschheitsgeschichte:In Leonardos Angesicht

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Porträt des Künstlers als junger Mann: Leonardo war eine gepflegte Erscheinung.

(Foto: Dr. rer. nat. Grit Schueler, Forensisches Institut)

Der Maler und Naturphilosoph wurde zu Lebzeiten nie porträtiert. Forensiker haben das nun zu seinem 500. Todestag nachgeholt.

Von Astrid Viciano

Wenn nur die Ohren nicht gewesen wären. Über die Haare Leonardo da Vincis hatte die Forensikerin Grit Schüler brauchbare Informationen erhalten, über sein Parfüm, selbst über die teuren Stoffe, die er trug. Aber über seine Ohren hatten die Chronisten nicht mal einen Nebensatz verloren. Daher beschloss die Humanbiologin, ihm posthum Durchschnittsohren zu verpassen, mittelgroß, blass, unscheinbar.

"Sie sollten nicht auffallen", sagt Schüler und deutet auf einen der zwei Bildschirme in ihrem Büro der Kantonspolizei Zürich. Ein Mann im Profil ist darauf zu sehen, mit gewellten braunen Haaren, hellen Augen und ganz und gar charakterlosen Ohren. Ein Phantombild Leonardo da Vincis hat die Forensikerin erstellt, zum ersten Mal überhaupt.

Am schlichten Stehtisch ihres Büros hat Schüler den großen Gelehrten virtuell wieder zum Leben erweckt. Endlich sollte ein realistisches Bild jenes Mannes entstehen, der als Universalgenie gefeiert und gern als bärtiger Greis dargestellt wird. "Wir aber wollten keinen abgehobenen Zausel zeigen, sondern den Menschen da Vinci", sagt der Züricher Historiker Bernd Roeck, der die historischen Informationen für das Phantombild lieferte. War da Vinci tatsächlich ein verschrobener Rebell, wie es ihm nachgesagt wird? Oder war er doch eher ein Dandy? "Mithilfe des Phantombilds können wir Leonardo vergegenwärtigen, als wäre er ein Mann unserer Zeit", sagt der kürzlich emeritierte Professor für Neuere Geschichte der Universität Zürich.

Längst nutzen Wissenschaftler heute weitere Methoden, um die Gesichter historischer Persönlichkeiten wiederherzustellen. Wie in den verstaubten Kisten eines Dachbodens stöbern sie im kollektiven Gedächtnis der Geschichte, lassen die Erinnerung an einzelne Menschen aufleben. Die Forscher fertigen zum Beispiel Abgüsse von den Schädeln der Verstorbenen, um aus Plastilin Gesichter zu rekonstruieren. Sie vermessen die Knochen, um sie am Computer in drei Dimensionen mit Haut, Augen und Haaren zu versehen. Selbst aus dem Erbgut lesen sie Informationen über das Aussehen der Toten ab.

Schon zu Lebzeiten waren Leonardos Gemälde berühmt, staunten die Menschen über seine anatomischen Zeichnungen. 6000 Blätter sind von ihm erhalten. Er hinterließ Rätsel und geometrische Figuren, Entwürfe von Bauwerken und Einkaufszettel. "Leonardo war extrem vielseitig, hat aber vieles nicht zu Ende gebracht", sagt Roeck. Eine Brücke über den Bosporus hatte er entworfen und ein anatomisches Lexikon mit 120 Buchbänden geplant. Von vielem aber bleiben nur Skizzen oder Notizen, die schwer zu deuten sind. Vielleicht interessieren sich deswegen so viele Menschen für da Vinci, vermutet Roeck: "Leonardo ist bis heute ein Rätsel."

Der Historiker wählt stets nur den Vornamen des alten Gelehrten, fast so, als wären sie Freunde geworden auf seiner Zeitreise durch alte Quellen. Schriften, Zeichnungen und Gemälde durchsuchte Roeck, um zu den Fakten vorzudringen. Rechtzeitig zum 500. Todestag seines Leonardos am 2. Mai dieses Jahres entstand so ein Bild des Universalgelehrten ("Leonardo: Der Mann der alles wissen wollte", C.H. Beck-Verlag).

Doch oft trügt die Erinnerung an den Gelehrten, wie Roeck feststellen musste. Ein Haufen historischer Zeichnungen hatte nicht mehr mit seinem Leonardo zu tun als mit anderen alten Männern seiner Zeit. Keinerlei Hinweise auf ein Selbstbild des Erfinders fand der Historiker, auch nicht in der Vitruvianischen Figur, jenem nackten Mann mit schulterlangem Haar, verhärmtem Gesicht und weit ausgestreckten Armen und Beinen, den Leonardo einst zu Papier brachte.

Self-portrait of Leonardo da Vinci; celebrated drawing by the Master. Biblioteca Reale, Turin

Bis heute verkaufen Straßenhändler weltweit die Zeichnung eines greisen Mannes mit langem Bart und strähnigem Haar.

(Foto: Bridgeman Images)

Bis heute verkaufen Straßenhändler weltweit die Zeichnung eines greisen Mannes mit langem Bart und strähnigen Haaren als Abbild da Vincis. Sie stammt jedoch aus dem 18. Jahrhundert und drückt wohl vor allem aus, wie wir Menschen uns einen alten Gelehrten vorstellen. "Wir finden ähnliche Abbildungen auch in Gemälden", erklärt Roeck. Er deutet auf den bärtigen Kopf in einem Bild des Malers Raffael. Es soll den Philosophen Platon darstellen. Und sieht dem vermeintlichen greisen da Vinci verblüffend ähnlich. Noch ein Intellektueller mit Zottelhaaren, wieder eine getrübte Erinnerung.

Schließlich fand Roeck aber heraus, dass der Maler Francesco Melzi seinen guten Freund da Vinci Jahre nach dessen Tod gezeichnet hatte. Das Bild des gealterten, bärtigen Künstlers konnte der Forensikerin Grit Schüler als Vorlage für das Phantombild dienen. Anhand des Bartwuchses konnte Schüler ablesen, dass er einen langen Unterkiefer hatte, der den Oberkiefer nach vorn überragte. Die Forensikerin deutet auf das Kinn, fährt aber sogleich über den Kopf des Gelehrten. "Schauen Sie, wie lang er ist!", ruft Schüler. Fast grotesk weit zieht sich der Schädel auf der Zeichnung nach hinten. "Vielleicht zeichnete Melzi ihn so, weil da Vinci so außergewöhnlich intelligent gewesen sein soll", vermutet die Forensikerin.

Um den großen Denker den Menschen heute besonders nahezubringen, beschlossen Schüler und Roeck, ihn virtuell nicht als Greis zum Leben zu erwecken. Um die 40 Jahre alt sollte er sein - und gut rasiert. Denn Bernd Roeck wusste aus früheren Studien, dass der Haarwuchs im Gesicht um 1490 gar nicht angesagt war.

Menschheitsgeschichte: Der Maler Francesco Melzi hatte seinen guten Freund da Vinci nach dessen Tod gezeichnet. Das Bild diente den Forensikern als Vorlage.

Der Maler Francesco Melzi hatte seinen guten Freund da Vinci nach dessen Tod gezeichnet. Das Bild diente den Forensikern als Vorlage.

(Foto: Francesco Melzi)

Für ein echtes Phantombild hätte Grit Schüler allerdings Zeitgenossen des Gelehrten zu seinem Aussehen befragen müssen. Aus deren Antworten und Beschreibungen hätte sie dann möglichst viele Details über seine Augen, seine Nase, seine Gesichtsform destilliert. So aber musste sie sich auf das Gedächtnis Melzis verlassen und auf die historischen Schriften. Um so ein Bild da Vincis entstehen zu lassen, ähnlich wie ein Fahndungsfoto der Polizei.

Damit kennt sich die Forensikerin aus, in ihrem Bücherregal liegt ein Brett, das sie zum Zeichnen an den Bildschirm anschließen kann. Gelernt hat sie vor allem von Rainer Wortmann, Phantombildzeichner am Landeskriminalamt Baden-Württemberg in Stuttgart. Er gilt als Koryphäe, zeichnet am Computerbildschirm und bei Bedarf auch noch mit der Hand. "Schon die ersten Höhlenzeichnungen zeigen visuelle Erinnerungen an Menschen", wird Wortmann später berichten.

Allerdings tun Menschen sich schwer, ein Gesicht präzise zu beschreiben. Was heißt es, wenn jemand eine große Nase hat? Was genau sind volle Lippen? Unser Vokabular stößt schnell an seine Grenzen. Die Kinn-Lippen-Furche etwa oder das Haut-Unterlippen-Grübchen dürfte nur Spezialisten bekannt sein. Daher halten sich Forensiker heute nicht nur an die Beschreibungen der Zeugen. Vor allem legen sie ihnen Bilder von virtuellen Gesichtern aus Datenbanken vor. "Daraus wählen die Zeugen die Gesichtsteile aus, die dem Täter ähnlich sind", erklärt Wortmann.

Bereits vor Jahrzehnten stellten Wissenschaftler fest, dass Menschen in den ersten drei Minuten einer Begegnung vor allem auf Augen und Mund achten. "Die Augen sind sehr wichtig für die zwischenmenschliche Kommunikation. Aus ihnen können wir Emotionen und Absichten herauslesen", sagt Charlie Frowd, forensischer Psychologe an der University of Central Lancashire in Preston, der eine Software für die Erstellung von Phantombildern entwickelt hat. Wenn sich Zeugen beim Erinnern auf die Augen des Täters konzentrierten, gelangen die Fahndungsbilder besser, als wenn sie sich zunächst mit Mund und Nase beschäftigten, fand Frowd heraus.

Um möglichst viele und präzise Erinnerungen zu erhalten, bitten Forensiker die Zeugen zunächst, sich an den Ort der Tat zurückzuversetzen. Sie fragen, ob es warm oder kalt war, wohin sie unterwegs waren, wonach es roch. "Unsere Erinnerungen sind in unserem Gehirn vielfach verknüpft", sagt Schüler. In ihr selbst steigen zum Beispiel sofort Bilder aus ihrer Kindheit auf, wenn es nach Raps duftet. Damals nämlich hat sie die Sommerferien oft an der Ostsee in der Nähe von Rapsfeldern verbracht. Erst wenn die Rückblende eingesetzt hat, fragen die Forensiker, ob die Zeugen einen Mann oder eine Frau gesehen haben, erkundigen sich nach dem Alter des Täters und der möglichen Herkunft.

Dabei kommen Menschen schon als Experten für Gesichter zur Welt, Babys erkennen nach wenigen Monaten Gesichter problemlos wieder. Vor allem in einem Bereich des rechten Schläfenlappens unseres Gehirns, dem Gyrus fusiformis, speichern sie individuelle Merkmale ab. "Das gilt allerdings nur für Gesichter, die uns vertraut sind", sagt Peter Hancock, Psychologe an der University of Stirling. Selbst Grenzbeamte, die speziell für das Wiedererkennen von fremden Personen auf Passbildern geschult waren, schnitten in einer britischen Studie nicht besser ab als untrainierte Studenten.

Grit Schüler arbeitet ständig an ihre Fähigkeit, individuelle Gesichtsmerkmale zu erkennen. Mal blickt sie ihr Gegenüber forschend an, mal betrachtet sie die Nasenflügel eines Kollegen. Jungen Forensikern empfiehlt sie, sich im Bus oder in der U-Bahn die Ohren ihrer Mitmenschen anzusehen. "Das fällt nicht auf", erklärt sie. So füttere sie stetig ihre innere Datenbank. Rasch zieht sie zwei weiße Kunststoffschädel aus ihrem Bücherregal. Die Augenhöhlen des linken Exemplars fallen deutlich schmaler aus als beim rechten. Beim zweiten Schädel stehen dagegen die Zähne weiter vor. "Wir sollten uns klarmachen, dass jedes Gesicht einzigartig ist", sagt sie. Gern hätte Schüler auch Leonardo da Vinci genauer betrachtet, seinen Freund und Zeichner Francesco Melzi befragt. Doch dem Gedenken an den großen Erfinder kann nicht einmal seine letzte Ruhestätte dienen, der Verbleib seiner Überreste ist nicht bekannt. Seine erste Ruhestätte beim Schloss Amboise an der Loire wurde zerstört, ob die später in der Schlosskapelle beigesetzten Gebeine tatsächlich jene des Künstlers sind, weiß niemand. Sämtliche Anträge, das Grab zu öffnen, haben die Behörden bislang abgelehnt.

Daher hat Schüler auch nicht die Möglichkeit, den Kopf des Gelehrten anhand seines Schädels komplett zu rekonstruieren. Das gelang aber bereits bei anderen berühmten Persönlichkeiten. Die Anthropologin Ursula Wittwer-Backofen von der Universität Freiburg zum Beispiel nahm sich vor ein paar Jahren das Haupt Friedrich Schillers vor und ignorierte bewusst die Gemälde und die Totenmaske des Dichters. "Ich wollte mich nicht beeinflussen lassen", sagt sie. Zunächst nahm sie ein Computertomogramm (CT) vom Schädel des Dichters auf. Dann richtete sie sich nach den aus der Forschung bekannten Berechnungen, wie groß der durchschnittliche Anteil an Unterhautfettgewebe eines Mannes mittleren Alters und wie die Muskulatur ausfällt. So konnte sie dem Schädel virtuell ein Gesicht auftragen. Auch wenn DNA-Analysen die Herkunft des Schädels später infrage stellten, konnten die Kuratoren einer Weimarer Ausstellung die Rekonstruktion präzise auf die Gesichtshälfte einer Büste Schillers projizieren. "Sie passte genau", sagt die Anthropologin.

Sogar über Größe und Form von Augen und Nase können Forscher heute begründete Vermutungen anstellen. Sie wissen besser als früher, wie sich die Knochenstrukturen auf das Weichgewebe auswirken. Ein Mitarbeiter Ursula Wittwer-Backofens etwa hat in seiner Doktorarbeit die Berechnung der Nasenform optimiert, anhand von CT-Aufnahmen bei 256 Chinesen und 258 Europäern im durchschnittlichen Alter von 45,9 Jahren. Immerhin lag in drei Vierteln der Fälle die mittlere Distanz zwischen geschätzten und tatsächlichen Messpunkten auf der Nasenoberfläche bei weniger als 1,2 Millimetern. Einer weiteren Doktorandin gelang es, anhand von weiteren CT-Aufnahmen die knöcherne Augenhöhle von 652 Frauen und Männern aus Europa oder China zu vermessen. Sie fand heraus, dass vor allem der äußere Rand der Augenhöhlen hilft, Geschlecht und Herkunft zu erkennen.

Künftig werden Forscher alten Überresten noch mehr Informationen entnehmen können. Das Erbgut kann als molekulare Erinnerung an das Aussehen eines Menschen dienen. "Wie bei einem Puzzle können wir so mehr und mehr Informationen zusammentragen", sagt die Züricher Forensikerin Schüler. Auf einem Kongress hat sie kürzlich einen Vortrag des Genetikers Manfred Kayser gehört, der sich an der Erasmus-Universität Rotterdam schon seit Jahren mit der DNA-Analyse von Aussehensmerkmalen beschäftigt. Ob jemand blaue oder braune Augen hat, kann Kayser inzwischen recht gut mit einem von ihm entwickelten DNA-Test herausfinden, auch kann er Rot- und Schwarzhaarige mit hoher Treffsicherheit ausmachen. Schwieriger wird es bei blonden und braunhaarigen Menschen. So werden viele blonde Kinder als Erwachsene braunhaarig. Ob die Haare hell bleiben oder dunkel werden, kann der Genetiker aber bisher nicht aus dem Erbgut herauslesen. Immerhin kann er jedoch auch fünf Gruppen unterschiedlich heller Hautfarben voneinander unterscheiden. Selbst ein Gen, das den Augenabstand verringert, hat er gefunden. Allerdings machte es unter den mehr als 10 000 untersuchten Menschen nur einen Unterschied von ein bis zwei Millimeter aus, der Augenabstand aller Probanden variierte aber insgesamt um mehr als zwei Zentimeter. "Es sind eben viele verschiedene Gene, die darauf Einfluss nehmen", sagt Kayser. "Es wird noch Jahre dauern, bis wir ein echtes Phantombild aus DNA herauslesen können."

Um die Haarfarbe da Vincis zu erfahren, musste Grit Schüler allerdings nicht im Erbgut stöbern. Ihr Mitstreiter Roeck fand Notizen des Gelehrten, um sich den Schopf kastanienbraun zu färben. "Leonardo war eine gepflegte, angenehme Erscheinung, kein verschrobener Rebell", berichtet der Historiker. Er duftete nach Lavendel und Rosenwasser, trug Umhänge aus Taft - und hat neben grandiosen Brücken und Fluggeräten vermutlich auch Handtaschen entworfen.

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