Historische Aufführungspraxis:"Verwunderung muss da sein"

Historische Aufführungspraxis: Traumversonnen: Der Barockmusikvisionär Sigiswald Kuijken bei der Probe in der Rokokokapelle des Holland Colleges in Leuven.

Traumversonnen: Der Barockmusikvisionär Sigiswald Kuijken bei der Probe in der Rokokokapelle des Holland Colleges in Leuven.

(Foto: Herman Siebens)

Intim wie vor 300 Jahren: Der Barockmusikvisionär Sigiswald Kuijken dirigiert die Matthäus-Passion mit kleinem Ensemble. Das wirkt in einer kleinen Kapelle so stark wie im großen Amsterdamer Concertgebouw.

Von Reinhard J. Brembeck

Manchmal, wenn ihm etwas bei der Generalprobe zur Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach in der holzvertäfelten Rokokokapelle des Holland Colleges in Leuven nicht passt, zieht er die Unter- über die Oberlippe und sieht mit seinen wallend weißen Haaren aus wie ein listiger Schalk. Aber das ist der Barockmusikvisionär, Geiger, Gambist und Ensemblegründer Sigiswald Kuijken nie gewesen, der vor 75 Jahren in der Nähe von Brüssel geboren wurde. Den Humor, den er bei Georg Friedrich Händel vermisst, hat Kuijken. Mittlerweile ist er altersweise mild, aber immer wieder blitzt der Widerspruchsgeist auf, jene Lust am Neinsagen, die neue Horizonte eröffnet.

Bei der Probe ist Kuijken, in Indienhemd und Schlabberhose, ständig in Bewegung. Den Blick gesenkt oder zur Decke erhoben, immer intensiv lauschend. Gelegentlich fixiert er einen Mitmusiker mit feuerspeienden Augen. Nur wenn er den Geigenpart spielt, hält er inne. Er redet leise, mit seiner warmen, rauen Stimme, mal Französisch, mal Deutsch, mal Flämisch. Als ein Musiker laut umblättert, erntet er vom Meister einen durchdringenden Blick, der sich in ein Lächeln verflüchtigt.

Immer wieder bricht Kuijken die Nummern ab, streckt dann den Daumen nach oben oder sagt "klingt sehr schön, ich find das wunderbar". Er fordert klarere Konturen, schreit "Forte!", murmelt "Magnifique!" oder trotzt: "Eine Verwunderung muss da sein!" Den nur zwei Takte kurzen, aber zentralen Chor, in dem die römischen Soldaten erkennen "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen", lässt er fünfmal singen. Er will ihn immer noch präziser, erschrockener, größer.

Am nächsten Tag im Amsterdamer Concertgebouw, dem neben dem Wiener Musikvereinssaal besten Konzertsaal Europas, nehmen sich Kuijkens nur 43 Musiker bescheiden aus auf der breiten Bühne. Amsterdam ist verrückt nach Bachs Passionen, derzeit steht fast täglich eine auf dem Programm des Concertgebouws. Dennoch ist der Saal fast ausverkauft. Und das Publikum steht nach Kuijkens meditativ verinnerlichter und in keinem Moment spektakulärer Deutung geschlossen auf und feiert den Großmeister und seine Musiker.

Kuijken hat seinen Großvater mütterlicherseits nicht gekannt. Der war Schmied, "Hufschmied" wie er beim Gespräch nach der Generalprobe sagt, und spielte nach der Arbeit versonnen auf der Geige. Schon mit sieben oder acht Jahren hat Sigiswald Kuijken Renaissancemusik gespielt auf einem "Fiedelchen", das seine Musikerbrüder Wieland und Barthold selber gebaut hatten. An den Konservatorien in Brügge und Brüssel lernte er Geige, Cello, Klavier, die alte Musik aber haben die Kuijken-Brüder sich autodidaktisch angeeignet.

Er kommt mit zweimal vier Solosängern aus, die Arien genauso singen wie Chöre

Traumversonnen wie der Großvater, der Schmied, spielt auch Kuijken den Gambenpart in der Arie "Komm, süßes Kreuz". Er stimmt seinen widerborstigen Siebensaiter, den Bach nur in einem Stück der Matthäus-Passion einsetzt, in der Probe so akribisch umständlich wie im Konzert. Ansonsten spielt Kuijken die erste Geige und steht wie alle anderen, nur einer der beiden Organisten darf sitzen. Aber sind da nicht etwas sehr wenige Sänger und Musiker am Werk? Kuijken verwendet keinen Chor wie gewohnt, er kommt mit zweimal vier Solosängern aus, die Arien genauso singen wie Chöre und Choräle, den Evangelisten wie Jesu, dessen Prozess, Folter und Hinrichtung hier verhandelt werden.

In den 1980er-Jahren machte der New Yorker Dirigent und Bach-Forscher Joshua Rifkin mit der These Furore, Bach habe seine Kantaten und Passionen nicht mit großem Chor aufgeführt, sondern nur mit Sängersolisten. Erhaltene Quellen, Erkenntnisse über die Bach zur Verfügung stehenden Sänger: Alles legt diesen Schluss nahe. Aber viele Musiker, auch Heroen der historischen Aufführungspraxis, hielten das für Unsinn. Wie Kuijken: "Fast alle waren damals darüber empört." Der Verzicht auf einen Chor schien und scheint ein Frevel. Es tobte ein Kulturkampf, Kuijken wollte Rifkins Einlassungen nicht einmal lesen.

Ende der 90er-Jahre probte Kuijken Bachs h-Moll-Messe, wie üblich mit einem Chor: "Das ist sehr schwierig, ein Chor kann das kaum singen." Die Probleme waren also riesig, und Kuijken kamen die gleichen Zweifel wie zuvor Rifkin. Ein Trompeter, der die Not des Meisters sah, verwies ihn auf Rifkins Artikel, auf die erbitterte Auseinandersetzung zwischen den Chorleitern Ton Koopman (dagegen) und Andrew Parrott (dafür). Der hatte alle Argumente in seinem Buch "Bachs Chor" versammelt. Kuijken liest und: "Nach zwei Minuten war ich überzeugt. Die Theorie ist absolut einwandfrei. Ich habe mich dann ein bisschen geschämt, dass ich fünfzehn Jahre lang so blöd gewesen war. Zum Glück war ich nicht der einzige Blöde."

Mit der solistischen Besetzung gewöhnte sich Kuijken auch noch das Dirigieren ab, zumindest bei Bach: "Es ist absolut nicht nötig. Carl Philipp Emanuel Bach schreibt, dass sein Vater von der Geige aus dirigiert habe. Mit einem penetranten Ton, damit es zusammenhielt." Diese Musik selbst ist nicht schwierig, die muss nicht dirigiert werden: "Mit einem Dirigenten wird es nur schwieriger." Kuijken hält sich also zurüc, und das tut seiner gelassenen Deutung dieser Musik hörbar gut.

In der Leuvener Kapelle klingt die solistische Besetzung absolut überzeugend. Die Balance zwischen den Instrumenten und den Sängern stimmt, zudem sind viele Details zu hören, die in traditionellen Aufführungen im Chorklang untergehen. Aber wie wird das im riesigen Concertgebouw mit seinen 2000 Plätzen funktionieren?

"In Holland muss alles immer richtig sein. Ich finde, so lebt man nicht."

Erstaunlich gut. Natürlich fehlen die großen Lautstärkedetonationen, die warme Akustik mildert die Konturen, die Instrumente spielen gleichberechtigt mit den Sängern, und selbst Kuijkens Gambe ist gut zu hören. Das Ganze ist so intim wie Kammermusik. Ganz im Sinne von Kuijkens Auffassung dieser Passion. Nicht die spektakulären Aspekte, das Zerreißen des Tempelvorhangs oder die turbulenten Massenszenen, stehen im Zentrum. Kuijken betreibt eine schlicht und schmerzlich nach innen gerichtete Meditation über den Tod.

Die belgischen Flamen sind katholisch, die Niederländer sind Calvinisten. Das hat eventuell einen Einfluss auf seinen Musizierstil. "Der katholische Blick auf die Kultur," erklärt Kuijken, der Flame, "ist etwas entspannter, etwas weniger streng. Er ist barocker. Das Leben und das Denken von Calvinisten ist nie barock. Bei uns ist alles gemäßigter und etwas langsamer. Wir müssen nicht immer recht haben. In Holland muss alles immer richtig sein. Ich finde, so lebt man nicht."

Immer wieder kommt Kuijken auf den Antagonismus zwischen Bach und Händel zu sprechen: "Händel ist das Äußerliche, oft das Effektvolle, sehr gut geschrieben. Es geht darum, dass die Leute beeindruckt sind." Das findet sich bei Bach nicht so, der einen Musiker deshalb vor größere Rätsel stellt. Kuijken kämpft um die richtigen Worte: "Bach ist von den Mitteln her konventionell. Aber er gebraucht sie so, dass die Musik universell wird." Vor 20 Jahren hat Kuijkens Frau Marleen, die in der Matthäus-Passion die Bratsche spielt, angefangen mit Yoga, bald machte Sigiswald mit. Seither, sagt sie, hätte er ein viel tieferes Verständnis der Texte bei Bach.

Schließlich kommt er auf den zentralen Punkt seiner Bach-Ästhetik zu sprechen. "Das Wichtigste ist, dass man diese Musik von innen heraus spielt, von Bach aus. Man braucht keine Interpretation, man braucht eine Realisation. Interpretation ist, wenn man etwas hineinbringt, was nicht gefragt ist. Man muss realisieren, was dasteht. Man muss gut lesen können. Das geht nur, wenn man viel Erfahrung hat mit dieser Musik und auch Quellen gelesen hat, aus denen man erfahren kann, was etwas heißt. Das ist Handwerk. Aber natürlich ist ein Funke von etwas Undefinierbarem dabei. Das kann man nicht hinschreiben, das kann man nur erfahren."

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