Brandkatastrophe in Notre-Dame:Volks-Kirche

Notre-Dame ist nicht einfach ein Wahrzeichen. Sie ist eine Kathedrale, die die Empfindungen des Volkes vom Erhabenen bis zum Skurrilen und Monströsen aufnimmt und vielfach verstärkt zurückwirft.

Von Joseph Hanimann

Die symbolische und emotionale Bedeutung eines Bauwerks misst sich auch daran, wie viel Tragik es auf sich nehmen kann. Seit acht Jahrhunderten steht die Pariser Notre-Dame nicht nur für Hochämter und Staatsfeierlichkeiten. Sie war im Spätmittelalter auch Zufluchtsort für Pestkranke, zog während der Französischen Revolution die Zerstörungswut der Aufständischen auf sich, die sämtliche Statuen aus der Königsgalerie auf der Hauptfassade schlugen, und überdauerte so manch andere Bedrohung.

Wichtige Persönlichkeiten bekamen dort durch eine Totenmesse endgültig ihr historisches Ansehen, wenn etwa die Träne im Auge Helmut Kohls während der Feier für den verstorbenen Präsidenten François Mitterrand 1996 Jahrzehnten der deutsch-französischen Partnerschaft ein persönliches Gesicht verlieh. Und nach den Terrorattentaten der letzten Jahre in Paris gedachte man hier feierlich der Opfer. Ein Hauch von Ewigkeit weht um die Doppeltürme mit den etwas unheimlichen Wasserspeiern über der Stadt. Das machte aus der Kirche auf der Seine-Insel eine Art Trostspenderin, auf die wie beim Pariser Wappensymbol - ein Schiffchen, das zwar "schaukelt, aber nicht untergeht" - Verlass ist. Und das sollte nun zu Ende sein?

Entsprechend war das Aufatmen, das in der Montagnacht durch die Menge der bestürzten Zuschauer ging nach der Meldung, Fassaden und Türme seien wahrscheinlich gerettet. Der zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert ziemlich kontinuierlich herangewachsene Bau hat sich mehr als andere Großprojekte jener Zeit als eine Hervorbringung des Volks in der Erinnerung festgesetzt. In der vom Abt Suger gewollten Basilika von Saint-Denis nördlich des Montmartre wurden die Könige begraben. In der Kathedrale von Reims fand über Jahrhunderte hinweg das Zeremoniell der Krönung statt.

Notre-Dame in Paris ist zwar auf Willen des Bischofs Sully entstanden, doch sah man in ihr vor allem ein Werk anonymer Baumeister, Steinmetze und Zimmerleute. Die sich von England kommend in ganz Westeuropa ausbreitende neue Bauweise der kühnen Gewichtsverlagerung auf Außenpfeiler wussten sie in namenloser Gemeinschaftsarbeit aufzugreifen und weiterzuentwickeln. In Emmanuel Macrons Wort in der Katastrophennacht, "wir werden das wiederaufbauen", klang diese Emphase der Kollektivanstrengung hörbar mit: als Gegenkraft zu jener Tendenz von Kontroverse und Dauerzwist, die den Franzosen auch tief im Blut steckt.

Festgesetzt im Kollektivbewusstsein hat sich jene Vision von Notre-Dame als einem Bauwerk des Volks für das Volk - sie beruht weitgehend auf einem Mythos - speziell durch den populären Roman von Victor Hugo. "Der Glöckner von Notre-Dame" heißt im Original "Notre-Dame de Paris". Es dürfte eines der wenigen Beispiele von Weltliteratur sein, das trotz der Berühmtheit seiner Hauptfiguren Esmeralda und Quasimodo den Namen eines Gebäudes im Titel trägt. Die Kathedrale zeigt sich im Roman als eine Art Horizontallandschaft, die alle Empfindungen des Pariser Volkes vom Erhabenen bis zum Skurrilen und Monströsen in all ihre Nischen aufnimmt und vielfach verstärkt zurückwirft.

Auch geografisch ist Notre-Dame aber so etwas wie das Herzstück ganz Frankreichs. Auf dem Platz davor ist eine Rosette in den Boden eingelassen, von deren Mittelpunkt aus in alle Himmelsrichtungen die Distanzen der Städte und Dörfer bis an die Ränder des Landes gemessen werden. Der französische Zentralismus hat darin seine materielle Ausprägung gefunden. Der Blick auf den Boden vor der Kathedrale zeigt aber noch etwas anderes.

Ebenfalls eingelassen ins Vorplatzpflaster sind dort die Spuren der krummen Häuserzeilen und Gassen, die bis ins 19. Jahrhundert hinein unmittelbar an die Kathedrale heranreichten. "Die Vorderseite sieht man gut, aber den Anblick des Übrigen muss man sich mühsam zusammensuchen, weil es teils versteckt, teils verbaut ist", bemängelte Friedrich Schlegel 1805. Die zentralistische Struktur des Königreichs und dann der Republik Frankreich war im Straßengewirr des damaligen Paris noch unsichtbar.

Beliebter als der Eiffelturm

Erst mit der Freiräumung um das Monument herum, nachdem der Architekt Viollet-le-Duc 1845 mit der Restaurierung der Kathedrale betraut worden war, rückte das Bauwerk auch visuell in den Mittelpunkt. Das war die Anfangszeit der systematischen Denkmalpflege, für welche Viollet-le-Duc eine weitgehend fiktive Gotik erfand: jenen idealisierten, angeblich authentisch mittelalterlichen Baustil, an dem die Nationen Europas, jede ihre Weise, ihr dämmerndes Nationalbewusstsein heranbildeten. Viollet-le-Duc war es auch, der Notre-Dame im Kreuzpunkt von Längs- und Querschiff jenen metallenen Spitzturm aufsetzte, der in der Nacht brennend in die Tiefe stürzte.

Diese Verschmelzung von historischem Zeugnis und sich darum rankendem Nationalstolz hat früh auch die ausländischen Besucher angesteckt. Ein Parisbesuch ohne Notre-Dame wäre wie eine Himmelfahrt ohne Himmel. Mit jährlich 13 Millionen Besuchern zieht die Kathedrale heute viel mehr Leute an als der Eiffelturm. Wenige in der oft langen Warteschlange dürften sich aber bewusst sein, wie vielfältige Zeitschichten unter ihren Füßen begraben liegen, vom ehemals gallischen Heiligtum über den römischen Jupiteraltar bis zur frühchristlichen Stefans- und der karolingischen Marienkirche.

Neben der geschichtsträchtigen Kollektiverfahrung war Notre-Dame aber stets auch Ort markanter individueller Erlebnisse, die ebenfalls den Weg in die Allgemeinkultur fanden. Zahlreich sind die literarischen Spuren persönlicher Begebenheiten um dieses Bauwerk, mochten auch nicht alle so tief gehen wie die Vision, die am Weihnachtstag 1886 den 18-jährigen Dichter Paul Claudel hinter der zweiten Säule am Choreingang erfasste und zum katholischen Glauben bekehrte. Notre-Dame bleibt im säkularisierten Frankreich das sakrale Monument, in dessen Schutz persönlicher Religionsglaube und streng republikanische Gesinnung frei von Kontroversen eine Verbindung eingehen können.

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