Karfreitag:Was Wahrheit ist

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(Foto: Jon Tyson/Unsplash)

Der Erfolg des rechten Relativismus zeigt: Schulterzucken im Angesicht der Wahrheitsfrage reicht nicht. Es bräuchte eine neue Lust an der Wahrheitssuche. Die Karfreitagsszene mit Jesus und Pilatus birgt vielleicht eine Idee, wie sie aussehen könnte.

Kommentar von Matthias Drobinski

Seht, der Mensch. Da steht er, verraten und ausgeliefert dem Herrn über Leben und Tod, Pontius Pilatus, dem Statthalter des Kaisers. "Bist du der König der Juden?" fragt der; und Jesus, der Geschundene, antwortet: "Mein Königtum ist nicht von dieser Welt." Also doch ein König? Du sagst es, antwortet Jesus dem Pilatus, "ich bin dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege." - "Was ist Wahrheit?" fragt Pilatus zurück; bis heute meint man sein Schulterzucken zu spüren. Und Jesus schweigt.

Jahrhundertelang haben die Kirchen die Erzählung aus dem Johannesevangelium als Fundament eines überwölbenden Anspruchs angesehen: hier der Gottessohn in der Fülle der Wahrheit, dort der feige Vertreter der Welt, der seine Hände in Unschuld wäscht und den Herrn dem Mob überlässt. Zu Recht ist das der Dekonstruktion anheimgefallen, schon deshalb, weil die Geschichte selber ein Konstrukt ist, mit antijüdischem Subtext: Allein Pilatus konnte Menschen zum Kreuzestod verurteilen, doch keine jüdische Autorität.

Und überhaupt: Hat sich die Rede von der Wahrheit nicht überholt, jenseits der Naturwissenschaften? Lässt sich im Zeitalter der Individualisierung noch von überindividuellen Gewissheiten reden? Ist unter den Bedingungen der Diskursethik die Wahrheit das, worauf sich im Moment eine möglichst große Mehrheit geeinigt hat? Die Rollen der Karfreitagserzählung haben sich in der Postmoderne vertauscht: Jesus erscheint als humorloser Fundi, Pilatus als aufgeklärter Philosoph, der weiß, dass die Frage nach der Wahrheit ein Achselzucken erfordert.

Das hat geholfen, angeblich ewige Wahrheiten zu schrumpfen, zu enttarnen als interessengeleitete Ansprüche oder ideologiegetriebene Konstrukte. Das hat aber auch einen Preis. Die Wahrheit ist zerbröckelt in unübersehbar viele Wahrheitsansprüche, es gibt sie nur noch körnerweise, als Granulat. Die aufklärerische Infragestellung der Wahrheiten hat paradoxerweise nicht zu mehr Aufklärung geführt, sondern zu abertausend Unfehlbarkeitserklärungen.

Das wird in manchen linken Milieus sichtbar: Wer sich dem vorgegebenen feministischen oder antirassistischen Vokabular verweigert, ist raus aus der Diskussion. Die Granularisierung ist aber noch viel stärker ein Phänomen der rechten Blasen: Die Wahrheit ist das Ergebnis meines Willens und meiner Vorstellung. In dieser Hinsicht sind die neuen Rechten überraschend individualistisch und antiautoritär; aus ihrer Sicht demaskieren sie die Wahrheitskonstrukte der politisch korrekten Mehrheit. Ihr Misstrauen gegenüber allem, was allgemein gelten soll, ist total; Donald Trump ist die Personifizierung dieses radikalen Relativismus. Gemeinsam ist den Blasen, dass sie das Ringen darum, was gilt, für überflüssig halten. Das Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit filtert heraus, was irritieren könnte.

Man kann die Wahrheit ahnen, sich ihr nähern durch Wissen, Nachdenken, Zweifeln. Besitzen aber kann man sie nicht.

Der Erfolg des rechten Relativismus hat die Erkenntnis wachsen lassen, dass Schulterzucken im Angesicht der Wahrheitsfrage nicht reichen könnte, dass das Körnchenhafte zu wenig wäre. Das Grundgesetz der Bundesrepublik gilt an seinem 70. Geburtstag gerade deshalb als jung und stark, weil es Wahrheitssätze enthält, die der Hinterfragung entzogen sind. Die Würde des Menschen ist unantastbar, ob gesund oder sterbend, hochbegabt oder dement, einheimisch oder fremd. Frauen und Männer sind gleich. Gewissen, Meinung, Glaube sind frei.

Auch in die Literatur und Kultur kehrt die Wahrheit zurück; es gibt kaum noch einen Kinofilm, der sich nicht auf "eine wahre Geschichte" beruft; das Authentizitätsbedürfnis gebiert Fälschungen wie die des Spiegel-Reporters Claas Relotius. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kablitz macht sogar das "postmodern-dekonstruktive Credo der Uneindeutigkeit" mitverantwortlich für den Aufstieg der Rechten; der Politikwissenschaftler Thorben Lütjen konstatiert, dass "moderne Demokratien auf einige gänzlich unmoderne Ressourcen angewiesen sind".

Nur: Zurückdrehen aufs Vormoderne lässt sich die Wahrheitsdebatte nicht; zum Glück sind weder die religiöse oder kulturelle Dogmatisierung noch die Schaffung eines Orwell'schen Wahrheitsministeriums eine Option. Eine neue Lust an der Wahrheitssuche bräuchte es trotzdem. Und vielleicht birgt die Karfreitagsszene mit Jesus und Pilatus eine Idee, wie sie aussehen könnte.

Jener Jesus, der Zeugnis von der Wahrheit ablegt, ist ohne jede Macht, ein Ausgelieferter vor der Vernichtung des Lebens und jeder Würde. Das Reich, in dem seine Wahrheit gilt, ist nicht von dieser Welt. Das ist eine Annahme, die über ein religiöses Glaubensbekenntnis hinaus hilft: Die volle Wahrheit existiert nur jenseits der menschlichen Definition. Das enttarnt alle, die in dieser Welt behaupten, sie besäßen die Wahrheit: Dies ist ein Macht- und kein Wahrheitsanspruch. Die von Jesus vertretene Wahrheit steht auf der anderen Seite. Sie ist parteiisch, ihre Partei ist die gefährdete, mit den Füßen getretene Würde des Menschen. Sie weist den Mächtigen in die Schranken, erschüttert ihre Gewissheit. Sie ist gerade deshalb aufklärerisch, weil sie sich als nicht von dieser Welt versteht.

Das ist der unaufhebbare Widerspruch der Wahrheit: Man muss sie suchen und ihr nachjagen, um sie ringen und über sie streiten, vertreten, was man als wahr erkannt hat. Wer das tut, kann tatsächlich bald nicht mehr seine Hände in Unschuld waschen, wie es einst Pilatus tat; das kann nur, wer dem großen Egal huldigt, einem der Götzen der Zeit. Man kann die Wahrheit ahnen, sich ihr nähern durch Wissen, Nachdenken, Zweifeln. Besitzen aber kann man sie nicht. Sie ist schlechthin unverfügbar; wer verkündet, er verfüge über sie, ist ein Lügner und Fälscher, bestenfalls ein Verblendeter. Wer wahrhaftig ist zu sich und zu anderen, der weiß, dass er sich schwankendem Boden anvertraut, wenn er von der Wahrheit redet. Aber er hat genug Mut und Vertrauen, es zu tun.

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Ökumenischer Kreuzweg in Lübeck

Leserdiskussion
:Was bedeutet Ihnen Karfreitag?

Am Karfreitag gedenken Christen der Kreuzigung Jesu. Da der Tag ein sogenannter stiller Tag ist, gelten das Tanzverbot sowie Einschränkungen bei Filmaufführungen. Für SZ-Autor Matthias Drobinski symbolisiert der Tag eine Wahrheitssuche.

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