"Anno 1800" im Test:Der Spaß, ein Despot zu sein

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Am Anfang besteht eine Siedlung in "Anno 1800" nur aus einem Hafen. Im Spielverlauf entwickelt sie sich zu riesigen Metropolen weiter.

(Foto: Screenshot / Caspar von Au)

Das Computerspiel "Anno 1800" romantisiert die Zeit des Kolonialismus. Aber Vorsicht: Wer es zu wild treibt, bringt das Volk zur Rebellion.

Von Caspar von Au

Die Bäcker sind die ersten, die die Schnauze von den vielen Überstunden voll haben. Sie streiken. Mit Schildern gehen sie in Scharen vor den Betrieben auf die Straße. Zu Hunderten ziehen sie in die Wohnviertel, um noch mehr Menschen zu mobilisieren. Bald sind die Polizisten in den blauen Kutschen hoffnungslos in der Unterzahl. Der Spieler in "Anno 1800" muss derweil hilflos zusehen, wie die Brotvorräte der Insel dahin schwinden. Er hat den Generalstreik auf dem Bildschirm selbst verschuldet.

Doch genau das macht in der Wirtschaftssimulation am meisten Spaß: Die Grenzen als Despot auszutesten. Den oberen Schichten Luxusgüter wie Champagner, Grammophone und Schokolade anbieten (und sich mit dem Verkauf eine goldene Nase verdienen), während die Armen in den Fabriken und auf den Plantagen dafür schuften. Und wenn die Inselzeitung über diese Ungerechtigkeit berichten will, ersetzt der Spieler den Artikel in Anno 1800 einfach durch einen Propagandatext über die Schönheit des Konsums. Nur wenn er es zu wild treibt, rebelliert das Volk.

Wirtschaft und Bevölkerung sind erstmals miteinander verknüpft

Einige Stunden zuvor: Ähnlich wie in den früheren Spielen der Anno-Reihe gehört dem Spieler zu Beginn einer Partie nur eine unbewohnte Insel mit einem kleinen Hafengebäude und ein Segelschiff. Zunächst errichtet er einige Holzhütten und einen Marktplatz - schon ziehen die ersten Bauern ein. Das Baumaterial für weitere Hütten kommt von einem Holzfäller und einem Sägewerk, in dem die Baumstämme zu Brettern weiterverarbeitet werden. Im weiteren Spielverlauf folgen wesentlich kompliziertere Produktionsketten. Fischerei, Webstube und Schnapsbrennerei versorgen die Inselbewohner mit dem Notwendigsten.

"Anno 1800" hat sich das Zeitalter der Industrialisierung vorgenommen. Damit kehrt die Spielereihe zu ihren Wurzeln zurück, nachdem die beiden zuletzt erschienen Teile, "Anno 2070" und "Anno 2205" ein Zukunftsszenario als Kulisse hatten. Im Spiel trifft Segelschifffahrt auf die neuen Dampfmotoren, Bauernhöfe treffen auf rußende Fabrikschornsteine. Gegen Ende können Spieler ihre Bürger und Industriestätten sogar mit Elektrizität versorgen. Gesellschaftspolitische Themen wie die Umweltverschmutzung, die Arbeiteraufstände und das Frauenwahlrecht blitzen im Spielverlauf auf.

Auf der Insel wird aus dem Dorf schnell eine Stadt. Einige Bauern steigen zu Arbeitern auf, einige Arbeiter wiederum nach einiger Zeit zu Handwerkern. Das Prinzip der Bevölkerungsstufen ist seit 21 Jahren ("Anno 1602") das Herzstück der Wirtschaftssimulation. In der sogenannten Alten Welt in Anno 1800 gibt es fünf Stufen. Nach Bauern, Arbeitern und Handwerkern folgen Ingenieure und Investoren. Jede Gruppe hat ihre eigenen Bedürfnisse. Die zu erfüllen, wird mit dem Spielverlauf immer schwieriger. Entscheidende Neuerung: Wirtschaft und Inselbevölkerung sind nicht voneinander unabhängig wie in den vorherigen Spielen.

Anno 1800 romantisiert die Kolonialzeit

Jeder Betrieb erfordert eine gewisse Anzahl von Arbeitskräften, damit er Waren produziert. Zusätzlich können je nach Art der Produktionsstätte nur Zugehörige einer bestimmten Bevölkerungsgruppe dort arbeiten. Im Sägewerk und der Getreidefarm schuften Bauern, im Stahlwerk Arbeiter und in der Glühbirnenfabrik Ingenieure. Der Spieler muss also immer darauf achten, dass das Verhältnis zwischen unteren und oberen Schichten auf einer Insel ausgeglichen ist - zumindest zu Produktionszwecken. Um die Produktivtät einzelner Betriebe zu erhöhen, kann der Spieler die Mitarbeiter zu Überstunden verdonnern. Dann steigt aber die Gefahr, dass diese streiken. Glücklicher werden sie dagegen, wenn er ihnen mehr Freizeit gibt und die Laufbänder in den Fabriken drosselt.

Hat die Stadt auf der Heimatinsel eine gewisse Größe erreicht, kann der Spieler weitere Inseln besiedeln. Das ist notwendig, weil manche zwar für den Anbau von Kartoffeln und Getreide, nicht aber von Paprika oder Hopfen geeignet ist. Außerdem warten die Inseln der Neuen Welt - irgendwo in Lateinamerika - darauf, vom Spieler erobert zu werden. Zwar gibt er in Anno 1800 nicht den Kolonialherren, der indigene Völker unterdrückt, ermordet oder missioniert. Auch versklavt er niemanden. Wie auf den Inseln in der Alten Welt gibt es auch hier zwei Bevölkerungsstufen ("Jornaleros" und "Obreros"), die der Spieler mit Waren glücklich stellen muss.

Trotzdem romantisiert das Spiel die Kolonialzeit in gewisser Weise. Die Bevölkerung in Europa verlangt im Spielverlauf nach Rum, Baumwolle und Tabak. Umgekehrt fordern die Obreros in der Neuen Welt Nähmaschinen und Bier. So lapidar werden die Zusammenhänge in Anno dargestellt.

Mit einem Zoo oder einem Museum lassen sich Touristen anlocken

Aber kann man das einem Spiel zum Vorwurf machen, in dem Außenpolitik bisweilen so funktioniert, dass ein Gegenspieler ein Foto seines Leuchtturms wünscht? Hilft der Spieler und macht mit einem Mausklick ein Bild, erhält er zur Belohnung rund 17 000 Goldstücke. Verweigert er die Unterstützung, sinkt sein Ansehen bei genanntem Gegenspieler und dieser erklärt ihm möglicherweise den Krieg.

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Vor Veröffentlichung der Zeitung fragt der Redakteur den Spieler, ob er mit den geplanten Artikeln einverstanden ist. Wenn gewünscht, kann er so negative Presse vermeiden.

(Foto: Screenshot / Caspar von Au)

Eine zentrale Rolle in Anno 1800 spielt die Zeitung. Freundlicherweise bekommt sie der Spieler vor Veröffentlichung zum Gegenlesen. Jeder der stets drei Artikel beeinflusst zum Beispiel, wie glücklich oder spendabel das Volk ist. Ein Artikel über die Verschmutzung der Insel durch die Stahlwerke verbreitet schlechte Laune, lieber ersetzt der Spieler den Text durch ein Stück über das nächste Stadtfest. Will er dagegen nichts lektorieren, fragt der Redakteur erstaunt: Keine Änderungen? Wer regelmäßig beim Zeitungsmachen mitmischt, bekommt vom Spiel einen Orden in "Fake News" verliehen.

Nach rund zehn Stunden Spielzeit befindet sich das Inselimperium auf einem guten Weg. Da bietet ein fremder Kapitän eine Expedition an. Im Stil eines Textadventures schickt der Spieler ein Schiff samt Crew auf die Mission, liest von ihren Erlebnissen und entscheidet per Klick, wie es weitergeht. Am Ende bringt die Mannschaft ein Krokodil und einen Pfau von der Reise mit. Der clevere Despot weiß auch daraus Profit zu schlagen. Ein Anlegesteg für Besucher und ein Zoo locken gut zahlende Touristen auf die Insel - ebenfalls eine Neuerung in Anno 1800. Um mehr Tiere für den Zoo zu holen, schickt der Spieler seine Schiffscrew erneut los. Auch ein Museum und einen Palast für eine Weltausstellung kann er bauen, um dort weitere Fundstücke seiner Expeditionen auszustellen. Der normale Spielmodus in Anno nennt sich nicht umsonst "Endlosspiel".

"Anno 1800" ist am 16. April für PC erschienen.

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