Prantls Blick:Wo Himmel und Hölle offen sind

Prantls Blick: Der Brand in der Pariser Kathedrale Notre-Dame hat unter anderem das Dach zerstört.

Der Brand in der Pariser Kathedrale Notre-Dame hat unter anderem das Dach zerstört.

(Foto: AP)

Notre-Dame und Sri Lanka: Die Kathedralen der Großstädte sind Orte, die Liebe und Hass auf sich ziehen.

Kommentar von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Wer trotz der schaurigen Bilder fast ein wenig erleichtert war, dass der Brand von Notre-Dame keine terroristischen Ursachen hatte, dem ist diese Erleichterung am Ostersonntag vergangen. Die Anschläge auf Kirchen in Sri Lanka sind von apokalyptischer Widerlichkeit: Während die Gläubigen die Auferstehung feiern, werden sie von Selbstmordattentätern in den Tod gerissen.

Heiliger Schauder, höllisches Entsetzen

Der heilige Schauder der Osternacht wandelt sich in höllisches Entsetzen. An dem Ort, an dem der Himmel offen sein soll, öffnen sich die Pforten der Hölle.

Die Massenmorde in den Räumen des Heiligen gehören zu den grauenvollsten Inszenierungen des Terrorismus. Man wünscht sich, auch in den Kirchen Sri Lankas hätte nur ein Brand, nicht aber ein terroristischer Fanatismus gewütet. Man wünscht sich, man könnte in Sri Lanka mit einem Spendenwettbewerb der Milliardäre, so wie es ihn in Paris gibt, den Schaden wieder reparieren. Man wünscht sich, man könnte auch in Sri Lanka einen gigantischen Regenschirm wie über Notre-Dame aufspannen; dort soll er verhindern, dass das Regenwasser durch das zerstörte Dach ins Innere der Kathedrale dringt. Der Terror ist tausendmal schlimmer als Regenwasser; er ist wie Säure, die die Gesellschaft verätzt.

Die Kirchen, die Kathedralen sind mehr als kunstvoll geschichtete Steine, sie sind mehr als Funktionsbauten, in denen Gottesdienste gehalten werden. Sie verkörpern ein Geheimnis. Dieses Geheimnis zieht grenzenlose Liebe und unbändigen Hass auf sich. Worin besteht das Geheimnis? Was hat es zu tun mit Ostern, mit der Auferstehung also, die Christen an diesen Festtagen feiern? Ist es dieses Geheimnis, das Gläubige und Ungläubige anzieht, Touristen und Terroristen?

Das ist die Frage, der ich in diesem Kommentar nachgehen möchte - nicht nur, weil Osterzeit ist und der parteipolitische Alltag, um den es an dieser Stelle oft geht, Pause macht. Warum gehen Menschen, die eine Stadt kennenlernen wollen, so gern in die Dome und Kathedralen? Meine Antwort: Diese Kirchen sind die heiligen Haltestellen der Großstadt. Dort ist Ruhe. Man spürt: An diesen Haltestellen macht auch das übliche Getriebe, der Betrieb der Welt, Halt. Umso größer ist das Entsetzen, wenn die Katastrophe und das Verbrechen in und über einen dieser Orte kommen.

Sprechende Mauern

"Kathedralen. Die Kunst, den Himmel zu berühren": Das ist der Titel eines Bildbandes, den ich zur Hand genommen habe, als Notre-Dame brannte. Der Münchner Verleger Johannes Thiele hat das Buch vor ein paar Jahren veröffentlicht; das Vorwort beginnt wie folgt: "Wer eine mittelalterliche Kathedrale betritt, vielleicht am frühen Morgen, ohne viel Wissen und Denken, aber empfänglichen Herzens, wird eine verblüffende Entdeckung machen. Obwohl der Besucher so einsam in dieser großen Halle steht, wird er das Gefühl haben, nicht allein zu sein: Gleichsam sprechende Mauern umfangen ihn, der Dom betrachtet ihn wie ein Lebewesen, die Formen klingen und sprechen. Er fühlt sich mit tausend Augen angesehen und unablässig angeredet ... In einer wunderbar schweigsamen Erregung steht der Betrachter in diesem hohen leeren Raum, und etwas zieht ihn empor, weitet sein Herz."

So mancher, der einen heftigen Stich, der einen großen Schmerz gespürt hat, als er die brennenden Bilder aus Paris gesehen hat, mag eine solche Erfahrung gemacht haben. So ein Dom, so eine Kathedrale ist nicht irgendein beliebiges Bauwerk. Es ist, so sagt es das genannte Buch, "Stein gewordenes Mysterium und Himmel stürmende Sehnsucht". Man muss kein gläubiger Christ sein, um das zu spüren; das spürt auch der Atheist und der Agnostiker - und das spüren die Milliardäre, die sich einen Spendenwettbewerb für Notre-Dame liefern.

Der Spendenwettlauf der Superreichen

In mittelalterlichen Zeiten, in den Zeiten, als die Kathedralen gebaut wurden, war es so, dass sich Fürsten, Bankiers und Spekulanten von der Sünde der "Geldmacherei und Krämerei" durch den Bau von Kirchen, Kapellen und Spitälern freikauften, weil bekanntlich eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als ein Reicher in das Reich Gottes kommt; so steht es bei Lukas 18,25. Die Vorwürfe gegen die Superreichen von heute lauten anders als im Mittelalter, sie heißen Steuerflucht und Steuerbetrug - aber die Motive für die Großspenden heute sind denen von damals nicht unähnlich.

Jede Stadt, jedes Dorf hat sein Notre-Dame

Die Kathedrale ist ein besonderer Ort, nicht eine x-beliebige Sehenswürdigkeit, mehr als ein Museum, mehr als ein Schauplatz von Macht und Herrlichkeit: Sie ist Ort der Spiritualität, ein Glaubens- und ein Lebensraum; sie ist ein Ort, der die Geschichte bewahrt, sie ist ein Ort, an dem sich die geistige und die geistliche Substanz eines Landes verdichtet und fortwirkt.

So ein Ort ist mehr als ein Erbe, es ist ein Ort der Kraft. Wenn so ein Ort verbrennt, verbrennt mehr als ein Haus. Es verbrennt Heimat, es verkohlt die geistige Behaustheit der Menschen. Ein Mensch, der sein Gotteshaus liebt und die Stimme dieses Gebäudes zu sich sprechen lässt, wird nicht anders können als auch Respekt und Ehrfurcht vor dem Gotteshaus des Anderen zu haben, und er wird nicht auf die Idee kommen, das Seine zu zerstören. Wenn das Verbrechen in dieses Haus einbricht und auf heiligem Boden mordet, ist das ein mörderischer Frevel.

Notre-Dame steht nicht nur in Paris. Jedes Dorf hat seine Notre-Dame. Die Gotteshäuser sind Häuser auch für die Menschen, die an einen Gott nicht glauben wollen oder können. Sie sind das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe keine Räume der großen Stille, der Meditation, des Innehaltens. Es gäbe keinen Raum, in dem Wörter wie Barmherzigkeit, Seligkeit, Nächstenliebe und Gnade ihren Platz haben. Es gäbe keinen Raum, in dem eine Verbindung da ist zu uralten Texten und Liedern - zu Liedern, die die Menschen schon vor Jahrhunderten gesungen, und zu Gebeten, die die Menschen schon vor Jahrtausenden gebetet haben. So ein Haus ist ein Haus, das Zeit und Ewigkeit verbindet. Das macht den Terror an diesem Ort so abgründig. Ein Gotteshaus, ob Kirche, Moschee, Tempel oder Synagoge ist ein Ort zur Heiligung des Lebens, ein Ort zur Rettung des Menschen. Wenn also in einem Gotteshaus gemordet wird, ist das ein Anschlag auf das Urvertrauen, dass es überhaupt einen Ort auf der Welt geben könnte, an dem es sicher und geschützt ist.

Das Kreuz, das im Mittelpunkt der christlichen Kirchen steht, ist missbraucht worden - als Drohzeichen, als Mord- und Eroberungsinstrument. Trotz alledem ist es das gute Zeichen des Christentums. Das Christentum handelt von einem Gott, der gelitten hat, der am Kreuz umgebracht wurde, der also weiß, was Leiden ist. Bei so einem Gott ist das Leid der Menschen nicht schlecht aufgehoben.

Zu allen Zeiten war die Kirche ein Ort des Schutzes und des Asyls

Das Dach der Notre-Dame-Kathedrale ist zerstört. Man kann diese Katastrophe allegorisch deuten: Der Himmel muss offen sein in einer Kirche, offen für alle Menschen, offener, als er es bisher gewesen ist; und er muss offen bleiben, auch wenn das Dach von Notre-Dame wieder repariert ist. Eine Kirche muss ein heimatlicher Ort sein, bleiben oder werden - ein Ort, an dem der Himmel offen ist für alle, nicht nur für die, die sich in der angeblich richtigen und wahren Glaubensgemeinschaft wähnen, sondern für alle, denen der offene Himmel lebenswichtig ist. Deswegen war die Kirche zu allen Zeiten ein Ort des Schutzes und des Asyls. Dort war der Mensch sicher, auch der verfolgte Mensch.

Diese Sicherheit versuchen die Terroristen zu zerstören. Es darf ihnen nicht gelingen. Die Kirchen müssen Orte der Kraft sein und bleiben, der liebenden, nicht der zerstörenden Kraft.

Mit diesen nachösterlichen Gedanken wünsche ich Ihnen eine gute Woche. Wenn Sie in Ferien sind - vielleicht verbringen Sie dann einmal eine ruhige halbe Stunde in der Notre-Dame Ihres Ferienortes. Ich wünsche Ihnen, dass es ein Ort der guten Kraft ist.

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