Jazz:Mit roten Ohren

Yakou Tribe

Als habe der Geist des Progressive Rock an der Musikschule Kreuzberg Nachhilfeunterricht in Virtuosität und Lockerheit genommen: "Yakou Tribe".

(Foto: David Beecroft)

Jazz im Geiste des Progressive Rock der Siebziger, nur viel lockerer und virtuoser: Das famose neue Album "Out of Sight" des Berliner Quartetts "Yakou Tribe".

Von Thomas Steinfeld

Irgendwo in Berlin, in einem Probenraum, wie es vermutlich Hunderte in der Stadt gibt, findet man einen Gitarristen, der gelegentlich zu früh zur Übungsstunde erscheint. Und weil er diszipliniert ist, weil er über musikalische Erfahrungen verfügt, die Jahrzehnte zurückreichen, und weil er so ungefähr alles spielen kann, was ihm in den Sinn kommt, nimmt er nun die akustische Gitarre und improvisiert vor sich hin. Ein c-Moll fällt ihm ein, dann ein B-Dur, und weil er nun schon einmal dabei ist, setzt er die abfallende Linie fort, und es folgen, nicht besonders harmonisch, aber mit einem mörderischen Effekt, ein A und ein As.

"Ha", lacht der Bläser, "was willst du denn mit ,White Room'?"

Die Akkordfolge erinnert ihn an etwas halb Vergessenes, lang Vergangenes. Es fällt ihm aber nicht ein, was es sein mag. In diesem Augenblick kommt der Saxophonist zur Tür herein, leicht tänzelnd, weil draußen so schönes Wetter ist. "Ha", lacht der Bläser, "was willst du denn mit ,White Room'?" Und weil dem Saxophonisten so leicht zumute und das Lied der Band Cream so ein dampfmaschinenschwerer Gassenhauer ist, setzt er eine Girlande darauf, die nicht nur fröhlich und verschnörkelt, sondern auch sehr lang ist. "Ha", lacht darauf der Gitarrist, "du mit deinem ewigen Garbarek. ,Spiral Dance!'" Daraufhin drückt der Gitarrist, nachdem mittlerweile auch der Bassist eingetroffen ist und wie besessen die vier Grundtöne jener Linie hämmert, auf den Knopf seines Verzerrers und spielt ein Solo in der Manier von Eric Clapton, wie es diesem im Winter 1968 nie eingefallen wäre. Nur der Fünf-Viertel-Takt am Anfang und in den Zwischenspielen des Originals geht bei dieser Operation verloren.

Zu den bleibenden Gedanken, die in Diedrich Diedrichsens enzyklopädischem Essay "Über Popmusik" (2014) zu finden sind, gehört das Konzept der Hörgemeinschaft. Werdende Popmusiker, lehrt er, finden sich über "bindende Geschmacksentscheidungen", die sich beim gemeinsamen Hören ihrer Vorbilder einstellen. Diese suchen sie dann, weitgehend experimentierend (weil sie es nicht besser können), als verschworene Gemeinschaft auf die Bühne zu bringen. Je öfter man nun das Album "Out of Sight" (Traumton Records) jenes Berliner Quartetts namens Yakou Tribe hört, desto mehr drängt sich der Gedanke auf, dass sich in diesen zehn Songs ein heiteres, souveränes Spiel mit den Hörgemeinschaften längst vergangener Zeiten verbirgt. Dabei kommt es zu einigen Überraschungen, zu einem "Blues For Old Countrymen" zum Beispiel, der den "Underground" der Siebziger, heute eher "Prog Rock" genannt, so perfekt darbietet, dass man glauben möchte, der Geist von "Soft Machine" ("So Boot If At All", 1968) sei plötzlich am Mariannenplatz aufgetaucht und habe an der Musikschule Kreuzberg ein wenig Nachhilfeunterricht in Virtuosität und Lockerheit genommen. Darüber hinaus ist alles da: das pentatonische zweitaktige Riff, die Rückung eine kleine Terz aufwärts, die scheinbar unbeholfenen "Breaks", das per Echogerät verfremdete Saxophon sowie das Geheul am Ende, das eine elektrische Gitarre erzeugt, wenn man die Tonabnehmer gegen die Lautsprecher richtet.

Die "Expertenrezipienten" (Diedrich Diedrichsen), aus denen sich die Bands der frühen Rockmusik zusammensetzten, zeichneten sich dadurch aus, dass sie über viel Fantasie verfügten, aber wenig musikalische Ausbildung genossen hatten. Aus diesem Grund wurden Bands zu engen Gemeinschaften, die man nur um den Preis schwerer Zerwürfnisse verlassen konnte. Anders war und ist es bei den Jazzmusikern: Jeder von ihnen kann alles spielen, kreuz und quer durch die Genres und die Zeiten. Jazzbands bilden deswegen keine engen Gemeinschaften, sondern sie entstehen und vergehen, manchmal schon nach einem Album, manchmal nach mehreren Jahren. Yakou Tribe nun ist der seltene Fall einer Jazzband, die schon fast zwanzig Jahre existiert (Pepe Berns, der Bassist, kam erst 2017 hinzu). "Out of Sight" ist ihr fünftes Album. Oder anders gesagt: Die zur Band gewordene Hörgemeinschaft ist offenbar nur eine ihrer Möglichkeiten, die sie wahrnehmen kann, wenn es damit etwas vielleicht Interessantes zu sagen gibt. Bei "Blues for Countrymen" liegt es in der Lässigkeit, mit der die Anstrengung des "Prog Rock" gespiegelt und gebrochen wird: Wenn der Bass zu seinem Solo ansetzt, dann ist es, als bekäme das Riff, ansonsten eine eher massive Figur mit viel Bodenhaftung, plötzlich flinke Beine und begänne, die Wände hinaufzutanzen.

Es gibt ein kleines Meisterwerk auf diesem Album, und es ist nicht leicht, hier die Reminiszenzen herauszuhören: Getragen wird das Stück "Fred" von einer freien, weit ausholenden Melodie, die vom Saxophon (Jan von Klewitz) vorgetragen wird, die aber, kaum dass sie Schwung aufgenommen hat, vom Bass rhythmisch und harmonisch gebrochen wird, worauf die beiden Instrumente umeinander tollen wie Welpen auf einer Frühlingswiese. Doch aller Leichtigkeit zum Trotz: Diese Komposition in D-Dur hat es in sich. Der erste Teil hat elf Takte, der zweite nur sieben, worauf ein Mittelteil mit neun Takten folgt, und so geht es fort, ohne dass die ständigen Wechsel den heiteren Fluss der Melodien auch nur um das Geringste behinderten - im Gegenteil: Da hat sich jemand etwas Feines ausgedacht, und die Welt lässt die üblichen zwölf Takte sausen und gibt einfach nach, in Freude und Beweglichkeit, während der Schlagzeuger (Rainer Winch) sachte mit dem Besen auf die kleine Trommel klopft. Auch in diesem Stück gibt es ein Bass-Solo. Es ist, wenn man nun doch unbedingt nach Referenzen suchen wollte, von der melodischen Spielweise des amerikanischen Bassisten Steve Swallow beeinflusst. Aber dieser Hinweis ist hier nur ein Kompliment: Solche harmonischen Bögen muss man erst einmal erfinden können.

In der Mitte der Band steht der Gitarrist Kai Brückner

In der Mitte der Band Yakou Tribe steht, auch wenn man es bei "Fred" nicht hört, der Gitarrist Kai Brückner. Oder besser gesagt: Auch weil man es nicht immer hört, bildet der Gitarrist das Zentrum der Gruppe. Die meisten Stücke scheinen mit der Gitarre in der Hand komponiert zu sein. Von ihr gehen auch die Genrewechsel aus, deutlich zu hören etwa in "Westray Gospel", wo, buchstäblich mit einem Schlag, aus der ländlichen Idylle ein Blues so fett wie Erdnussbutter hervorgeht. Kai Brückner hat bei Mike Stern in New York gelernt, von Bill Frisell scheint er zumindest die meisten Schallplatten zu kennen, und wenn er übermütig wird, schlägt er einen Bogen um das Bauernland hinter Houston in Texas, wo die Gitarren brüllen wie die Ochsen auf der Weide, bis der Saxophonist kommt und das lange Lasso seiner Melodien schwingt. Aber Kai Brückner ist kein Eklektiker. Eher ist es wohl so, dass ihm wie den drei anderen Musikern manchmal das eine gefällt und manchmal das andere, und alle sind mit so viel Ernst und musikalischer Souveränität bei der Sache, dass daraus am Ende ein gemeinsamer Stil hervorgeht.

Verlaufen ist die Geschichte der Band vermutlich ganz anders. Aber man könnte sich vorstellen, da habe es einst ein jugendliches Kollektiv begeisterter Hörer gegeben, in dem dann jeder, als er erwachsen wurde, sein Instrument zu beherrschen lernte und ein guter Jazzmusiker wurde. Die Erinnerung aber, wie man einst mit roten Ohren vor den Lautsprechern saß und einander "Mann, was ist das gut!" zurief, ohne den Satz auch nur im Mindesten begründen zu können: Diese Erinnerung blieb lebendig und wurde fruchtbar.

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