"Bunker im Wald":Zeitgeschichte in Beton

"Bunker im Wald": Bernd Walter setzt fort, was sein Vater Martin begonnen hat: Auf einer Tour durch den Wald führt er in die Geretsrieder Geschichte.

Bernd Walter setzt fort, was sein Vater Martin begonnen hat: Auf einer Tour durch den Wald führt er in die Geretsrieder Geschichte.

(Foto: Felicitas Amler)

Bernd Walter führt zu den sichtbaren Überresten der NS-Rüstungsbetriebe, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebene die Stadt Geretsried aufgebaut haben

Von Felicitas Amler

So viel Beton in einem Wald! Und dabei sind diese Bunkerruinen am Wegesrand und die Stahlarmierungen, über die man zu stolpern droht, nur die letzten Reste einer gigantischen, weitverzweigten Anlage. Im südlichsten Geretsried, hinter den Schrebergärten, in einem Dreieck aus Sudetenstraße, Isar und Jeschkenstraße, wird Zeitgeschichte sichtbar. Hier wurde einst in riesigem Ausmaß Munition für die Kriegsmaschinerie der Nazis produziert. In 246 Gebäuden wurden Sprengladungen gefertigt, mit Zusatzmitteln versehen, gemahlen, gepresst, gelagert; und wenn sie fehlerhaft waren, wurden sie auf einem Brandplatz vernichtet. Unter dem Tarnnamen "Tal II" betrieb die Deutsche Sprengchemie (DSC) hier von 1941 an das einzige Werk im NS-Reich, das Sprengladungen herstellte. Weiter im Norden, im heutigen Geretsried-Gartenberg, war "Tal I", ein noch größeres Werk der Dynamit AG (DAG), das Sprengstoffe wie Hexogen, Nitropenta, Pikrinsäure lieferte.

Wer sich mit Bernd Walter auf eine Tour "Bunker im Wald" begibt, kann viel über diese beiden höchst produktiven NS-Rüstungsbetriebe erfahren. Der 54-jährige ehemalige IT-Manager, der jetzt Psychologie studiert, tritt im Wortsinn in die Fußstapfen seines Vaters Martin Walter, der diese Bunker-Führungen jahrelang mit großer Resonanz organisiert hatte. Martin Walter ist im vergangenen Jahr gestorben. Er war einer der Motoren des Arbeitskreises Historisches Geretsried (AHG). Diesen Ehrenamtlichen verdankt die Stadt die akribische Erforschung ihrer Geschichte.

Bernd Walter hat vor drei Wochen zum ersten Mal eine Gruppe von der Sudetenstraße bis zum Einödhof und an der Isar entlang über das Rohi-Werk wieder zurück geführt; hat die mehr als achtzig Teilnehmer auf Reste von Luftschutzbunkern, Schaltgebäuden, Wasserbecken und Zaunpfosten aufmerksam gemacht und ihnen Hintergründe vermittelt. An diesem Samstag haben Interessenten erneut die Chance, sich dieser kundigen Tour durch Wald und Geschichte anzuschließen.

"Bunker im Wald": Die Betonwege durch den Wald sind noch original.

Die Betonwege durch den Wald sind noch original.

(Foto: Felicitas Amler)

Es waren nicht die Autobahnen

Es beginnt mit einer Klarstellung: Die Nazis wollten den Krieg von Anfang an. Walter verweist auf die Vier-Jahres-Pläne, auf den Reichsparteitag 1936, auf die Erklärung, in vier Jahren werde Deutschland kriegsbereit sein. Bei ihm ist zu hören, und in den Publikationen des AHG ist nachzulesen, warum das Gebiet des heutigen Geretsrieds so gut für die Rüstungsbetriebe geeignet schien: "Es gab Wald zur Tarnung, genügend Wasservorkommen, einen Fluss zur Ableitung der Abwässer, eine mögliche Verkehrsanbindung zur Isartalbahn, der benötigte Grund war zum größten Teil im Besitz des Staates." Schon 1936 habe das Oberkommando des Heeres den Wolfratshauser Forst als Standort ins Visier genommen, so schrieb Walter senior einst: "Die Arbeitslosigkeit im Dritten Reich wurde nicht bekämpft durch friedliche Großprojekte wie Autobahnen, Entwässerung von Mooren, Projekte des Wasserbaus oder andere Infrastrukturmaßnahmen, sondern durch Projekte der Rüstungsindustrie."

Und deren Relikte kann entdecken, wer sehenden Auges durch den Geretsrieder Süden geht. Ein paar Schritte über die vor achtzig Jahren von den Nazis angelegten Betonplattenwege, die noch heute den ganzen Wald durchziehen - plötzlich links am Wegesrand: ein umgefallenes säulenartiges Betonelement, davor ragen dicke Kabelreste aus dem noch laubbedeckten Boden. Walter erklärt: "Eine ehemalige Telefon-Notrufsäule." Davon habe es viele gegeben, um Störungen und Unfälle in den weit verzweigten Anlagen zu melden - und Waldbrände, vor denen große Angst geherrscht habe. Das Kommunikationssystem im Werk sei überhaupt ausgeklügelt gewesen: von einer Selbstwähl-Telefonanlage mit 364 Nebenstellen bis zu Fertigungsüberwachung und automatischer Schaltung.

Mit Informationen über den einzigen Luftangriff der US-Armee auf das nördliche Rüstungswerk am 9. April 1945 - ein Bombenteppich, der Wachslager, Lehrlingswerkstatt und Packmittellager beschädigte - geht es weiter zur Ruine eines Luftschutzbunkers. Es ist nur noch der Eingang erhalten, und doch ist dieses klaffende Monstrum eines der eindrucksvollsten Zeugnisse der Zeit. Es lässt sich hier verdeutlichen, wie die kleinen und großen Bunker, von denen es in den beiden Werken 593 gab, gebaut waren: Betonrahmen-Konstruktionen mit Stahlarmierungen und dicken Dächern, die mit Erde zugeschüttet und bepflanzt wurden. Gelegentlich - und auch heute noch zu entdecken - gab es Ein-Mann-Bunker: Die Kinder in der von Jung wie Alt besuchten Führung inspizieren den Brocken, der umgekippt unter Geäst liegt, neugierig.

Ein schmaler hoher Bunker mitten im Wald lässt sich von innen besichtigen. Er diente als Schaltgebäude für die Sprengstoffmühlen. Walter erläutert, dass zu recycelnde Sprengstoffe gemahlen wurden, was allerdings ein sehr explosionsgefährdeter Vorgang war. Von dem Schaltgebäude aus konnte der Prozess in sicherem Abstand gestartet werden.

"Bunker im Wald": Der schmale hohe Bunker war ein Schaltgebäude für die Sprengstoffmühle.

Der schmale hohe Bunker war ein Schaltgebäude für die Sprengstoffmühle.

(Foto: Felicitas Amler)

Die beiden von 1938 an errichteten Rüstungswerke, die hinter elf Kilometern Stacheldraht lagen, umfassten zusammen 720 Hektar Fläche, darauf eine Werksbahn mit vier Bahnhöfen, Verladerampen, Wasserwerke, Löschteiche, 35 Meter hohe Beobachtungstürme, Mühlen, Pressen und Kraftwerke. Bernd Walter kann dazu eine Anekdote erzählen. Sein Elternhaus am Isardamm steht auf dem Grund eines der Kraftwerke, die nach dem Krieg gesprengt wurden. Diese mit Kohle befeuerten Anlagen hatten Kamine, die teleskopartig eingefahren werden konnten. In seiner Kindheit, so Walter, sei eines Tages im Winter der halbe Garten verschwunden gewesen: Der Schacht des früheren Kamins war eingebrochen.

Die Tour führt am Einödhof vorbei, wo der Brandplatz des Werks war, zum Isar-Hochufer. Walter macht einen episodischen Ausflug in die Würm-Eiszeit, schildert, wie hier einst der Wolfratshauser See entstand und die Isar, die ursprünglich nicht hier floss, vor 15 000 Jahren bei Tölz durch einen Molasse-Riegel brach und damit ihre heutige Fließrichtung gewann.

Den Nazis diente die Isar als Wasserquelle für die Dampfturbinen der Kraftwerke in der Rüstungsproduktion und zur Heizung der Gebäude. Einige tausend Kubikmeter pro Tag seien da aus dem Fluss gepumpt worden, sagt Walter und führt die Gruppe zu einem Hügel, unter dem das Pump-Gebäude lag. Dahinter öffnet sich dicht bemoost eines von zwei Absetzbecken. Die Gruppe staunt, wie gut da manches noch erhalten ist: An das Geländer, achtzig Jahre alt und seitdem Wind und Wetter ausgesetzt, kann man sich gefahrlos lehnen, um ins Becken zu schauen, wo unten der Ablauf zu erkennen ist.

"Bunker im Wald": Über dieses Absetzbecken wurde aus der Isar abgepumptes Wasser zu den Dampfturbinen geleitet.

Über dieses Absetzbecken wurde aus der Isar abgepumptes Wasser zu den Dampfturbinen geleitet.

(Foto: Felicitas Amler)

Der Weg führt nun durch dichtes Gestrüpp, alltägliche Spaziergänger verlaufen sich hierhin wohl eher selten. Die nächste Station ist Rohi: Der Stoffhersteller, der international Flugzeuge mit Sitzbezügen ausstattet, hat in einem aufgelassenen Bunker begonnen. Ein Paradebeispiel für die Geretsrieder Industriegeschichte, die Aufbauleistung der Vertriebenen, die nach 1945 hier angesiedelt wurden und auf den Trümmern, aus Bunkern und Baracken der verheerenden Rüstungswerke, eine florierende Stadt, die größte Stadt des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen, aufbauten. Die Baracken waren Wohnstätten von Rüstungsarbeitern gewesen. Es gab aber auch steinerne Siedlungen: im heutigen Stadtteil Stein, der daraus seinen Namen ableitet, und in Föhrenwald, dem heutigen Waldram. Der Besuch des dort von einem Verein geschaffenen "Erinnerungsorts Badehaus" könnte nach einer Bunker-Tour das Bild der Geschichte Wolfratshausens und Geretsrieds abrunden. Nach 8000 Schritten und dreieinhalb ebenso lehrreichen wie anschaulichen Stunden mit Bernd Walter sollte man dazwischen allerdings eine Pause einlegen.

"Bunker im Wald - eine Wanderung in die Zeit der Rüstungswerke", Samstag, 27. April, 13 Uhr, Treffpunkt Parkplatz (ehemals Netto), Sudetenstraße 68, Geretsried, Gebühr: 5 Euro

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