Tischtennis:Chinesisches Tief

Fan Zhendong CHN APRIL 25 2019 Table tennis Tischtennis 2019 World Table Tennis Championship

Verhexter Ball? Fan Zhendong, Erster der Weltrangliste, war in Budapest schon im Achtelfinale ausgeschieden.

(Foto: Nakashima / imago)

Sechs Titelfavoriten scheiden bei der Tischtennis-WM früh aus - darunter auch der kranke Timo Boll, 38 aus Odenwald, der unbedingt noch mal zu Olympia will.

Von Ulrich Hartmann, Budapest/München

Als der Österreicher Werner Schlager vor 16 Jahren in Paris Tischtennis-Weltmeister wurde, war er gerade frisch verliebt. Zwischen den Spielen spazierte er mit seiner Freundin eng umschlungen durch die frühlingshafte Stadt. Verliebtsein ist ein Rausch, genauso, wie bei einer Weltmeisterschaft Runde um Runde voranzukommen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was in Schlager vor sich ging, als er damals im Endspiel auf Wolke sieben den Südkoreaner Joo Se-Hyuk besiegte.

Der Österreicher feierte 2003 nicht nur einen emotionalen, sondern auch einen historischen Titel, denn seither haben bei sieben Individual-Weltmeisterschaften nur noch Chinesen im Männer-Endspiel gestanden. Chinesen unter sich - das ist seit eineinhalb Jahrzehnten der Normalfall im Tischtennis, aber bei der WM in Budapest geriet diese Ordnung soeben durcheinander. Die Auslosung sowie die Form einiger chinesischer Spitzenspieler haben dafür gesorgt, dass es an diesem Sonntag erstmals seit 16 Jahren kein rein chinesisches Männer-Endspiel geben wird. Außerdem wird weder der Weltranglisten-Erste Fan Zhendong noch der Zweite Xu Xin Weltmeister werden, denn beide haben nicht einmal das Viertelfinale erreicht. Von den Top Acht der Weltrangliste haben das Viertelfinale außerdem verpasst: der Japaner Tomokazu Harimoto, der Südkoreaner Lee Sangsu, der Brasilianer Hugo Calderano - und der Odenwälder Timo Boll, aber das ist eine ganz eigene, dramatische Geschichte.

Als Boll, 38, nach Budapest geflogen ist, sorgte er sich um Rücken, Knie und Schulter, denn diese Körperteile haben ihn in den vergangenen Monaten abwechselnd geplagt. "Vielleicht überstehe ich nicht mal die erste Runde", hatte Boll gesagt. Doch dann schlug er den Kroaten Andrej Gacina, den Slowaken Lubomir Pistej und den Japaner Masataka Morizono. Gegen Letzteren spielte Boll derart stark, dass er plötzlich von einer Medaille träumen durfte, zumal der Franzose Simon Gauzy mit Xu Xin den einzigen Chinesen in dieser unteren Hälfte des Turniertableaus besiegt hatte. Erst ein Mal, 2011 in Rotterdam, hatte Boll mit Bronze eine WM-Einzel-Medaille gewonnen. Jetzt, in Budapest, schien sogar noch mehr möglich zu sein.

Schlager war damals in Paris frisch verliebt - Boll hingegen bekam in der Nacht zum Donnerstag Fieber.

Der Körper des 38-Jährigen hatte sich auf 39 Grad erhitzt, als er im Achtelfinale gegen den Südkoreaner Jang Woojin spielen sollte. Boll musste nicht nur diese Partie absagen, sondern auch das Doppel-Viertelfinale zusammen mit Patrick Franziska. Hätte Boll gegen Woojin gewonnen, wäre eine Medaille in Griffweite gewesen. Hätten sie im Doppel gegen die Portugiesen Apolonia und Monteiro gewonnen, hätten sie Bronze bereits sicher gehabt. In den Wirrungen einer bröckelnden Tischtennis-Weltordnung besaß Boll die Chance auf zwei historische Medaillen - und wurde krank. "Ihm blutet das Herz", verriet der Teamarzt Antonius Kass.

An diesem Samstag ist es 50 Jahre her, dass mit Eberhard Schöler zum einzigen Mal ein Deutscher in einem WM-Einzel-Finale stand. Schöler verlor 1969 gegen den Japaner Shigeo Itoh. Außerdem ist es 30 Jahre her, dass Jörg Roßkopf und Steffen Fetzner 1989 in Dortmund Doppel-Weltmeister wurden. Wenn am Ende der Jahreszahl eine Neun auftaucht, dann öffnet sich fürs deutsche Tischtennis scheinbar oft eine Tür. Doch diesmal konnte niemand hindurchgehen. Die Bronzemedaille für das gemischte Doppel Patrick Franziska/Petrissa Solja war ein kleiner Trost, zumal der Mixed-Wettbewerb nächstes Jahr in Tokio erstmals olympisch ist. Aber ansonsten war diese WM aus deutscher Sicht eine Enttäuschung. Erstmals seit 28 Jahren erreichte keine von vier deutschen Frauen die dritte Runde, und keiner der fünf deutschen Männer schaffte es ins Viertelfinale. Das ist eineinhalb Jahre vor Olympia eine beängstigende Bilanz für die deutschen Spieler, die mal "die Chinesen Europas" genannt wurden.

Ihre kontinentale Dominanz müssen sie in zwei Monaten dringend zurückgewinnen. Denn bei den European Games Ende Juni in Minsk qualifiziert sich die Siegermannschaft direkt für Olympia 2020. Für Boll wären diese Sommerspiele die sechsten. Eine olympische Einzelmedaille ist ausgangs seiner ruhmreichen Karriere das einzige Edelmetall, das ihm noch fehlt. Bolls blutendes Herz von Budapest könnte nächstes Jahr in Tokio kuriert werden.

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