Ende der Münchner Räterepublik:Folgenreiche Morde im Schulhof

Räterepublik in Bayern, 1919

Mit einem Trauerzug durch München verklärt das Militär die zwei im Luitpold-Gymnasium erschossenen Regierungssoldaten Anfang Mai 1919 zu Märtyrern der Konterrevolution.

(Foto: SZ-Photo)
  • Am 30. April 1919 erschießen Soldaten der Münchner Räterepublik zehn Gefangene - eine Vergeltungsaktion.
  • Unter den Toten befinden sich sieben Aktivisten der rechtsextremen Thule-Gesellschaft.
  • Obwohl die Morde im Luitpold-Gymnasium das einzige Verbrechen dieser Größenordnung der "Roten" blieb, diente die Tat vor allem den Rechsextremisten als Rechtfertigung für den "weißen Terror", dem Hunderte zum Opfer fielen.
  • Die nach dem Ende der Räterepublik völkisch-antisemitisch aufgeladene Atmosphäre in München prägte spätere Nazi-Größen, darunter auch Adolf Hitler.

Folge 9 der SZ-Serie: Revolution!

Von Oliver Das Gupta

Weitgehend still soll es am 30. April 1919 in München gewesen sein. Nur ab und zu habe man Glockengeläut vernommen, heißt es, Alarmläuten von einem von räterepublikanischen Männern besetzten Kirchturm. Doch die Ruhe war trügerisch, denn die Revolutionswirren in der Landeshauptstadt und in deren Umland erreichten in diesen Tagen ihre blutigen Tiefpunkte.

Ende April haben "Weißgardisten", die Kämpfer von rechtsextremen Freikorps und regulären Regierungstruppen, alle Zufahrtswege nach München blockiert. Die Räterepublik ist von der Außenwelt abgeschnitten. Gerüchte von Plünderungen, Vergewaltigungen und willkürlichen Bluttaten machen hüben wie drüben die Runde.

Manches ist wahr, vieles wird erfunden oder übertrieben. Und als dann ins Münchner Zentrum die Kunde dringt, Rotarmisten seien massakriert worden, nehmen kommunistische Kämpfer Rache: In einem Schulhof an der Müllerstraße, wenige Gehminuten vom Viktualienmarkt entfernt, dort, wo später ein Heizkraftwerk gebaut werden wird und sich mittlerweile Luxuswohnungen befinden, richten sie zehn Gefangene hin.

Die Gegenseite erklärt die Tat bald zum "Geiselmord vom Luitpold-Gymnasium". Doch die Schilderungen darüber, was vor 100 Jahren wirklich passiert ist, gehen auseinander. Selbst bei der Uhrzeit widersprechen sich die Quellen:

Wurden zwei "Weißgardisten" vormittags und die übrigen Gefangenen nachmittags getötet? Oder fielen die Schüsse erst nachts? Gab der örtliche Kommandeur Fritz Seidel den Feuerbefehl, oder war es Rudolf Egelhofer, der Oberkommandierende der Roten Armee? Schauten gar Führungspersönlichkeiten der Räterepublik zu?

Fakt ist: Neun Männer und eine Frau werden an jenem Mittwoch erschossen. Geiseln sind die meisten keine; zwei der Toten sind Soldaten gewesen, sieben wurden gefangen genommen, weil sie der Thule-Gesellschaft angehörten.

In diesem klandestinen Verein haben sich seit 1918 intellektuell auftretende Rechtsextremisten und okkulte Spinner versammelt. Antisemitismus, Verschwörungsideologien und völkischer Nationalismus kittet die wenigen Hundert Aktivisten zusammen. Ihr Zeichen ist ein Schwert, dahinter, als aufgehendes Sonnenrad, ein Hakenkreuz.

Die Parole der Gruppe lautet: "Gedenke, dass du Deutscher bist! Halte dein Blut rein!" Spätere Nazi-Größen wie Rudolf Heß, Hans Frank und Alfred Rosenberg dockten bei der Thule-Gesellschaft an.

Im April 1919 ist der Geheimbund ein wirkmächtiger Gegenspieler der Räteregierung. Die Aktivisten fälschen Dokumente, platzieren Spitzel in der Roten Armee und leiten Informationen an die nach Bamberg geflohene Landesregierung von SPD-Ministerpräsident Johannes Hoffmann weiter.

Auch Anhänger der "Roten" sind geschockt, die Kampfmoral sinkt

Als Freikorps und Regierungstruppen auf München marschieren, stürmen räterepublikanische Beamte das Thule-Hauptquartier im Hotel "Vier Jahreszeiten" und nehmen 20 Personen fest, darunter die später Hingerichteten.

Die Tat im Luitpold-Gymnasium, von wem sie auch angeordnet worden ist, verbreitet Entsetzen - auch unter Anhängern der Räterepublik. Sozialisten wie Ernst Toller, bis vor Kurzem noch einer der führenden Köpfe in der Stadt, distanzieren sich von den Exekutionen. Die Betriebs- und Soldatenräte weisen über Flugblätter jede Verantwortung von sich. In der Truppe sinkt dennoch die Kampfmoral.

Den Konterrevolutionären kommt die Nachricht dagegen gelegen: Sie stilisieren die Todesschüsse zum Beleg für den "roten Terror", mit dem die Kommunisten herrschten. Entsprechend werden aus den Gefangenen unpolitische "Geiseln", und die Schilderungen werden brutalisiert: In den Zeitungen heißt es, die Opfer seien mit Bajonetten erstochen, verstümmelt und ausgeplündert worden, und es ist von Dumdumgeschossen die Rede, die Schädel platzen ließen - erfundene Details.

Die Münchner Neuesten Nachrichten greifen die Tat immer wieder auf und schreiben von einer "ganz tierischen Rohheit" der dunkelroten Soldateska.

All dies wirkt immens bei den Zeitgenossen: Selbst Eugenio Pacelli, der päpstliche Nuntius in München, fordert Sühnemaßnahmen. Der "bestialische Geiselmord" müsse hart geahndet werden, erklärt der spätere Papst Pius XII. Thomas Mann, der mit seiner Familie in Isarnähe wohnt, sieht das ähnlich. Mit Blick auf führende Kommunisten wie Eugen Leviné notiert er, man solle mit "aller aufbietbaren Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen".

Dabei sind die Erschießungen im Luitpold-Gymnasium das einzige Verbrechen dieser Größenordnung auf Räteseite, wie eine Analyse der Polizeidirektion München später bestätigt. Andere Behauptungen, etwa dass Rotgardisten den Bahnhof zerstört oder Frauen "kommunalisiert" hätten, seien "falsch und darum schädlich".

Doch Anfang Mai wirken sich die schauerlichen Gerüchte mächtig aus: Sie dienen als Rechtfertigung für den Terror der "Weißen", die jetzt wüten. Die Freikorps, die oft aus im Weltkrieg enthemmten Veteranen bestehen, misshandeln und töten, wen sie als Feinde ausmachen.

Oft sind es Unbeteiligte: russische Kriegsgefangene, Mitglieder eines katholischen Arbeitervereins oder auch Frauen, die es wagen, sich gegen Belästigungen verbal zu wehren. Im Namen des Kampfes gegen die "Spartakisten" können die "Weißen" tun, was sie wollen, keiner wird dafür bestraft.

"Das ist die Revolution, der ich entgegengejauchzt habe", notiert Erich Mühsam, verhafteter Angehöriger der ersten Räteregierung, desillusioniert: "Nach einem halben Jahr ein Bluttümpel: mir graut."

Die Erschießungen vom Luitpold-Gymnasium werden dagegen zum Mythos, den rechtsextreme Gruppen ausschlachten. Er prägt für lange Zeit das Bild und die Deutung der Rätezeit. Und dieser Mythos nährt größere: den der "jüdischen Weltverschwörung" zum Beispiel.

Mehrere der revolutionären Köpfe in München hatten jüdische Vorfahren, auch wenn sie nicht religiös sind. Insgesamt ticken die meisten jüdischen Deutschen ohnehin konservativ.

Doch davon lassen sich die Judenhasser ebenso wenig aufhalten wie davon, dass sich die Israelitische Kultusgemeinde von den Revolutionären distanziert, oder davon, dass einer der Toten vom Luitpold-Gymnasium ein Maler mit jüdischen Wurzeln gewesen ist.

Hitler bleibt während der Kämpfe passiv - danach startet er seine Polit-Karriere

Der grassierende Antisemitismus prägt spätere Nationalsozialisten. Der junge Heinrich Himmler etwa hat sich 1919 dem Freikorps Oberland angeschlossen, das gegen die "Roten" marschiert. Franz Ritter von Epp, Anführer des nach ihm benannten Freikorps, macht Ernst Röhm, den späteren SA-Chef, zu seiner rechten Hand.

Kämpfer der Marine-Brigade Ehrhardt schmieren sich Hakenkreuze auf die Stahlhelme. Zum Polizeipräsident steigt Ernst Pöhner auf, einer der ersten Nazis, er macht Wilhelm Frick zum Chef der politischen Abteilung - der wird 1933 Reichsinnenminister.

Und Adolf Hitler? Der Österreicher fungiert während der Räterepublik als "Vertrauensmann" in seiner Einheit. Bei den Kämpfen bleibt er passiv.

Wenige Tage nach dem Sieg der "Weißen" aber wird er Teil einer Kommission, die das Verhalten seiner Kameraden während der Räteherrschaft untersucht. Es ist Hitlers erster Polit-Job mit wirklicher Macht. "Seine Aufgabe war es nun, ehemalige Kameraden anzuschwärzen", schreibt der Historiker Hans-Ulrich Thamer.

Es ist der Beginn einer furchtbaren Karriere.

Die nächste Folge erscheint am 4. Mai.

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