70 Jahre Grundgesetz:"Die Versammlungsfreiheit ist ein Kern-Grundrecht"

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(Foto: Robin Worrall/Unsplash; Bearbeitung SZ)

Noch hat der Hashtag die Kundgebung nicht ersetzt. Die Protestforscherin Sabrina Zajak erklärt, warum Menschen heutzutage auf die Straße gehen, wie ein Konzert zur Demo wird und wieso Neonazis demonstrieren dürfen.

Interview von Jana Anzlinger

Wer sich 2019 Gehör verschaffen will, kann eine Online-Petition starten, auf Social Media posten oder versuchen, ein Hashtag zu etablieren. Trotzdem ist die Versammlungsfreiheit wichtig und muss geschützt werden, argumentiert die Protestforscherin Sabrina Zajak.

SZ: Was bringt es im digitalen Zeitalter noch, zum Demonstrieren auf die Straße zu gehen?

Sabrina Zajak: Sich zu versammeln ist ein Kernelement von Protest. Demonstrationen können die Gesellschaft besonders prägen. Je mehr Menschen dabei sind, desto relevanter wirkt das Thema und desto größer ist der Druck auf die Politik. Das sehen wir bei Fridays for Future: Die vielen Schüler auf der Straße setzen ein Signal.

Aber gerade für Jugendliche spielt doch das Internet eine wichtige Rolle?

Soziale Medien informieren und mobilisieren. Aber persönlicher Kontakt entscheidet eher über die Teilnahme an Protest, etwa mit Freunden oder Klassenkameraden. Wir haben noch nie an so vielen Standorten gleichzeitig kleine Demonstrationen gesehen. Protest kommt nicht aus dem Internet, sondern in diesem Fall aus den Schulen.

Wichtig ist das Internet als Medium für die internationale Verbreitung: Wir wissen, was Greta Thunberg in Schweden macht. Und weltweit berichten Medien von Klimakatastrophen und Umweltschäden. Das verstärkt das Gefühl eines gemeinsamen globalen Problems. Das ist anders als etwa beim Gelbwesten-Protest, der weltweit Aufmerksamkeit erregt und sich trotzdem nicht derart verbreitet hat.

Die Gelbwesten klagen über hohe Steuern und soziale Ungleichheit, solche Sorgen haben die Menschen doch überall.

Ja, aber sie sehen in jedem Land anders aus. In Frankreich sind die Proteste eng an die Politik von Präsident Emmanuel Macron gekoppelt. Außerdem sind die politischen Beteiligungsstrukturen andere.

Also während die Deutschen noch ein Bürgerbegehren organisieren, randalieren die Franzosen schon los?

Derart verallgemeinern lässt sich das nicht. Aber eine bestimmte Protestkultur macht sich in jedem Land bemerkbar.

In der Bundesrepublik ist die Protestkultur traditionell eher links.

1968 war nicht nur hier die Geburtsstunde der progressiven Bewegungen. Studenten-, Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung waren prägend für die Außerparlamentarische Opposition. Aus bürgerlicher Sicht ist eher Parteipolitik erstrebenswert. Trotzdem ist deutscher Protest nicht nur links, das zeigt ja Pegida. Und Neonazi-Aufmärsche haben Tradition.

Sabrina Zajak leitet die Abteilung Konflikt und Konsens des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung. Sie ist Mitbegründerin und seit Januar 2013 stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. (Foto: Rasmus Tanck)

Wenn Rechtsextreme unter Polizeischutz ihre Hetze ins Megafon brüllen, wirkt das nicht gerade demokratiefördernd. Darf ihre Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden?

So einfach ist das nicht. Sehr interessant finde ich, dass viele Linke solche Einschränkungen fordern - was ja ein bisschen abstrus klingt, weil linke Protestler stark für diese Demonstrationsfreiheit gekämpft haben. Und das Bundesverfassungsgericht hat sie immer wieder bestärkt, etwa im Brokdorf-Beschluss.

Sie meinen die Entscheidung zugunsten von Atomkraftgegnern, die das Verfassungsgericht am 14. Mai 1985 gefällt hat: Spontandemos müssen nicht angemeldet sein, Friedliche dürfen nicht wegen einiger Randalierer heimgeschickt werden, und wenn die Polizei eine Demo für gefährlich hält, muss sie das genau begründen.

Die Verfassungsrichter haben mit dieser Grundsatzentscheidung erstmals klar Stellung zu Artikel 8 bezogen: Die Versammlungsfreiheit ist ein Kern-Grundrecht, das nicht stark eingeschränkt werden darf.

Natürlich provoziert und polarisiert Protest, das soll er ja auch. Er provoziert oft den Staat oder die Stadtverwaltung oder die Polizei; wenn bei denen die Deutungshoheit liegen würde, könnte jede Kundgebung wegen möglicher Ausschreitungen verboten werden. Protest darf nicht Spielball des politischen Tagesgeschehens werden. Erlaubt und richtig sind Einschränkungen in Fällen von Gewalt gegen Menschen.

Und wenn sie nicht gewalttätig sind, soll man Rechte einfach machen lassen?

Nicht unbedingt: Es ist sinnvoll, wenn die Zivilgesellschaft sich in gewisser Hinsicht selbst reguliert, indem zum Beispiel zu Gegendemonstrationen aufgerufen wird.

Eine Form von Gegendemo war das "Wir sind mehr"-Konzert in Chemnitz. Ist das noch Protest, wenn Teilnehmer durch ein Gratis-Event angelockt wurden?

Ich halte es für weit gegriffen, dass jemand sagt: Ich gehe nur aus Fun zu dem Konzert, das zufällig ein Protestereignis ist, und ignoriere die anderen Leute, die politische Shirts anhaben und Flyer verteilen. Die meisten Besucher haben politische Anliegen, aber demonstrieren darf ihnen Spaß machen. Das muss nicht jedem gefallen. Wer Kritik an dem Veranstaltungskonzept hat, darf sie ja auch äußern. Ist doch schön, wenn nicht über Ausschreitungen diskutiert wird, sondern über Konzerttickets.

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