EU-Osterweiterung 2004:Ein vergessener Festtag für Europa

EU-Osterweiterung jährt sich zum 15. Mal

Junge Tschechen feiern im Jahr 2004 die EU-Erweiterung mit einem Konzert auf einem Platz in der Altstadt von Prag.

(Foto: dpa)

Es war absolut richtig, dass vor 15 Jahren acht osteuropäische Länder Teil der EU wurden. Aktuelle Probleme in Polen und Ungarn sollten Ansporn für Reformen sein - und für einen genaueren Blick auf die Region.

Kommentar von Matthias Kolb, Brüssel

Der historische Moment wurde gebührend gefeiert und mit hinreichend Symbolik inszeniert: Am 1. Mai 2004 ging Bundeskanzler Gerhard Schröder zunächst von Polen nach Tschechien, und von dort über eine Behelfsbrücke nach Deutschland. An seiner Seite waren die Premierminister aus Polen und Tschechien und alle jubelten über die größte Erweiterung der Europäischen Union, die sich damit vor allem nach Osten ausdehnte. Denn abgesehen von Malta und Zypern gehörten die Neulinge einst zum ehemaligen Warschauer Pakt.

Fünfzehn Jahre später herrscht in Westeuropa mehr Ernüchterung als Stolz: Einer Umfrage der Körber-Stiftung zufolge halten 46 Prozent der Deutschen den Beitritt von Ungarn, Slowenen oder Slowaken für eine falsche Entscheidung. Dieser Eindruck ist ebenso falsch wie gefährlich: Die 2004 vollzogene Erweiterung ist ein Glücksfall für die EU und war absolut richtig.

Niemand, der je Budapest, Krakau, Ljubljana oder Prag besucht hat, wird bestreiten können, dass hier Europas Kultur in ihrer Blüte zu bewundern ist. Gleiches gilt für Riga, Tallinn und Vilnius. Wer die baltischen Staaten 2019 als "Ex-Sowjetrepubliken" bezeichnet, verleugnet nicht nur deren jahrhundertelange Zugehörigkeit zum europäischen Kulturkreis, sondern auch die Tatsache, dass Estland, Lettland und Litauen völkerrechtswidrig von Moskau besetzt und Hunderttausende deportiert wurden.

Dabei beweist allen voran Estland zögerlichen Politikern und risikoscheuen Wählern in "Old Europe", welche Chancen in der Digitalisierung liegen und wie mit Innovationsfreude und Risikobereitschaft eine Verwaltung effizienter und bürgernäher gestaltet werden kann. Die Zeiten, in denen der Osten nur vom Westen lernen konnte, sind vorbei. Andersherum geht es auch.

Naivität und Euro-Euphorie führten zu Fehlern

Niemand wird bestreiten, dass die Konsensfindung schwieriger geworden ist, seit noch mehr Regierungen ihre legitimen Interessen vertreten, und dass es in der EU erhebliche Probleme gibt. Aber diese sind lösbar, wenn sie realistisch betrachtet und die Fehler der Vergangenheit pragmatisch korrigiert werden. Rückblickend war es natürlich naiv und eine Folge der damals herrschenden Europa-Euphorie, dass bei der Erweiterung keine bessere Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz oder der Korruptionsbekämpfung eingeführt wurde (auch bei Malta wäre dies heute sinnvoll).

Jene Umbauten des Rechtssystems, wie sie in Polen, Ungarn und zunehmend auch Rumänien vorgenommen wurden, waren Anfang des Jahrtausends unvorstellbar, ein Rückschritt ins Autoritäre undenkbar. Die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten reichen nicht aus, aber es gibt diverse Vorschläge, diesen Fehler zu korrigieren: Beim nächsten Haushalt, der von 2021 an gelten wird, sollte die Vergabe von Fördergeldern an die Einhaltung jener Prinzipien gekoppelt werden, zu denen sich alle Beitrittskandidaten verpflichtet haben.

Gewiss: Gerade in Großbritannien lagen die Prognosen der Regierung, wonach jährlich nur "einige Tausend" Osteuropäer wegen der Jobs auf die Insel ziehen werden, um ein Vielfaches daneben und haben den Brexit-Befürwortern Munition für ihre "Let's take back control"-Kampagne geliefert (obwohl die knapp vier Millionen Osteuropäer die britische Wirtschaft am Laufen halten). Aber im Allgemeinen sind auch Staaten in Westeuropa, gerade die exportorientierte deutsche Wirtschaft, gut gefahren mit der Vergrößerung der Absatzmärkte und der Möglichkeit, dass Fach- und etwa Pflegekräfte überall arbeiten können. Studien belegen, dass die Sorge vor dem "polnischen Klempner" unbegründet war: Gerade die ostdeutschen Grenzregionen haben mit am meisten profitiert.

Der 15. Jahrestag der EU-Osterweiterung wäre nun ein guter Anlass, den Blick zu schärfen und über die nötigen Reformen nachzudenken. Politiker sollten ebenso wie Medien und Gesellschaft mehr Komplexität zulassen und sich intensiver mit den Nachbarn im Osten auseinandersetzen. Der Begriff der "neuen" Mitglieder ist dabei ebenso wenig hilfreich wie die Tendenz, alle acht 2004 beigetretenen Staaten mit den 2007 hinzugekommenen Rumänen und Bulgaren sowie den Kroaten (seit 2013 dabei) in einen Topf zu werfen.

Nicht alle Ungarn sind Orbán-Fans, in Polen gibt es viele Meinungen

Deren Interessen sind ebenso verschieden wie der Grad an Integration. Beispiel Euro: Die Balten haben wie die Slowaken und Slowenen die Einheitswährung eingeführt, die anderen nicht. Beispiel Umgang mit Moskau: Polen, Estland, Lettland und Litauen sehen Russlands Regierung äußerst kritisch, während Ungarns Premier Viktor Orbán und Tschechiens Präsident Miloš Zeman mit Putin kuscheln. Beispiel Migration: Nicht alle Osteuropäer sind solche Hardliner wie der Ungar Orbán - und viele Bürger wünschen sich von der EU Antworten, wie die Auswanderung von hunderttausenden ihrer Landsleute gestoppt werden kann. Allianzen bilden sich über die Regionen hinweg: Die Bedeutung von Fördergeldern für die Wirtschaft verbindet die Osteuropäer oft mit Griechen und Portugiesen.

Besonders wichtig ist es aber, dass die Öffentlichkeit in Deutschland und Westeuropa erkennt, dass nicht alle Ungarn Orbáns illiberale Demokratie gut finden und die nationalkonservative Partei PiS von vielen Polen kritisch gesehen wird. Dass die Staaten seit 2004 Teil der Europäischen Union sind, hilft den Kritikern dieser Regierungen. Die von Brüssel überwachten Regeln geben gerade der jungen, weltoffenen Generation Hoffnung, dass Korruption besiegt werden kann.

Am 1. Mai, diesem vergessenen Festtag für Europa, ist es gut, sich daran zu erinnern, dass vor allem die Bürger dazu beizutragen haben, dass das Projekt EU weiter funktioniert und zukunftsfest gemacht wird. Antipathien gegenüber einzelnen Politikern und Regierungsparteien helfen hier nicht weiter.

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