Wohnungsnot in Nürnberg:Unbürokratisches Bauen war einmal

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Die Wohnanlage Reichelsdorf mit großen Grünflächen und einem Abenteuerspielplatz aus Naturmaterialien hatte in den Sechzigerjahren Modellcharakter. (Foto: Siedlungswerk Nürnberg)

Das Siedlungswerk Nürnberg ist das älteste der drei staatlichen Wohnungsbauunternehmen in Bayern. Die Probleme sind heute ähnlich wie vor 100 Jahren, doch deren Lösung gestaltet sich schwieriger.

Von Claudia Henzler, Nürnberg

Wenn ein Zeitreisender aus dem Jahr 1919 die Klagen über die heutige "Wohnungsnot" hörte, würde er vermutlich verwundert den Kopf schütteln. In Nürnberg und anderen bayerischen Großstädten war die Situation nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich dramatisch. Günstiger Wohnraum war ja schon während der Industrialisierung Mangelware, weil immer mehr Arbeiter vom Land in die Stadt drängten. Nach Kriegsende verschärften Flüchtlingsströme und Heimkehrer die Lage noch einmal. Gleichzeitig befand sich das Land politisch kurz vor dem Chaos. Die Monarchie war gestürzt, die neue Verfassung noch nicht verabschiedet, und nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Februar 1919 zog sich die erste vom Landtag autorisierte Regierung nach Bamberg zurück. Erstaunlicherweise war genau das der Boden, auf dem Bayerns erstes staatliches Siedlungswerk errichtet wurde: Ganz ohne Kabinettsbeschluss, in einem beinahe revolutionären Akt.

Nürnbergs Geschicke wurden damals noch vom III. Bayerischen Armeekorps gelenkt - es hatte während der Kriegsjahre das Sagen gehabt -, aber auch schon von einem Nürnberger Arbeiter- und Soldatenrat. Anfang des Jahres 1919 beschlossen beide gemeinsam, die drängenden Probleme Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot anzugehen. Am 7. März gaben sie ihre Pläne in den lokalen Zeitungen bekannt: "Zur Behebung der Wohnungsnot wird sofort ein größeres Siedlungsprojekt in Angriff genommen."

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Da man seit Monaten auf die Genehmigung aus München warte und dort nur geredet und nicht gehandelt werde, nehme man die Dinge nun selbst in die Hand. Gesagt, getan: Schon am 13. März zogen etwa 370 kurzfristig rekrutierte Arbeiter mit Äxten und Sägen los, um vor den Toren der Stadt ein Stück Staatswald zu roden. In kürzester Zeit wurden Straßen gebaut, Kanäle verlegt und sowohl ein Sägewerk als auch ein Steinbruch geschaffen, um möglichst viele Arbeiter beschäftigen zu können. Ende April 1919 waren es fast 2400.

Am 2. Mai - die Bamberger Regierung hatte inzwischen ihre Zustimmung signalisiert und Geld zugesagt - wurde das Projekt nachträglich einigermaßen legalisiert, indem das Siedlungswerk Nürnberg gegründet wurde, zunächst als Körperschaft des öffentlichen Rechts unter Beteiligung des Freistaats, des Kreises Mittelfranken und der Stadt Nürnberg. Schwarzbauten blieben die neuen Häuser vorerst trotzdem.

Schnell ging deren Bau voran. Schon am 7. September konnte bei den ersten Häuschen Richtfest gefeiert werden. Innerhalb von sechs Jahren entstanden in den heutigen Stadtteilen Buchenbühl und Ziegelstein auf der Grundlage einer sozialorientierten Stadtplanung 558 sogenannte Siedlerhäuser, einfache Einfamilienhäuser mit großen Nutzgärten. Anders als bei späteren Bauprojekten gingen fast alle nach einiger Zeit in das Eigentum der Siedler über.

Diese spannende Entstehungsgeschichte hat Bernd Windsheimer vom Verein "Geschichte für alle" zum hundertjährigen Bestehen des Siedlungswerks recherchiert und in einer Unternehmenschronik zusammengetragen. Eine Zusammenfassung ist noch bis 15. Mai als Ausstellung im Foyer des Heimatministeriums zu sehen.

In Ziegelstein wurden mit den Siedlerhäusern auch Gemeinschaftsgebäude und Läden geplant. (Foto: Siedlungswerk Nürnberg)

Das Siedlungswerk Nürnberg war das erste staatliche Wohnungsbauunternehmen in Bayern und wurde, anders als die 1936 gegründete Landesbanktochter GBW, nie privatisiert. 1974 wurde das Unternehmen nach einer Fusion mit der "Neuen Heimat Nürnberg" in eine GmbH umgewandelt. Es vermietet heute im Großraum Nürnberg knapp 8000 Wohnungen, davon etwa 40 Prozent Sozialwohnungen.

Falls sie neidisch sein sollten auf die unbürokratische Art, mit der die Nürnberger damals Tatsachen schufen: Bei der offiziellen Jubiläumsfeier war es den Festrednern nicht anzumerken. Geschäftsführer Klaus Zweier räumte allerdings ein, dass es ihm und seinen Mitarbeitern nicht leicht fällt, den 2015 vom bayerischen Kabinett beschlossenen Auftrag umzusetzen und bis zum Jahr 2020 tausend neue Wohnungen zu schaffen. "Das war und ist eine Riesenherausforderung", sagte er.

Nicht nur, weil die Planung heute länger dauert und die Baubranche quasi ausgebucht ist. Der Wohnungsbaugesellschaft schlage auch zunehmend Widerstand von Nachbarn entgegen, die sich gegen die Nachverdichtung ihrer Viertel wehren. Nach Jahren, in denen die Modernisierung des Gebäudebestands - vor allem große Wohnanlagen aus den Fünfziger- bis Achtzigerjahren - Priorität hatte, dominieren seit 2017 wieder Spatenstiche und Einweihungen. Immerhin 300 vom Kabinett bestellte Wohnungen wurden schon gebaut und vermietet, 252 weitere sind im Bau, knapp 600 durch Bauvoranfragen oder -anträge auf den Weg gebracht.

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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