Forum:Jenseits der Regeln

Fast jedes Unternehmen bekennt sich zur "Compliance" - doch mehr Kontrolle birgt Probleme. Und es gibt Grauzonen.

Gastbeitrag von Marcel Schütz und Richard Beckmann

Von Unternehmen wird ein möglichst konsistenter Umgang mit Regelabweichung erwartet. Dies ist, je nach Verstoß, bei Weitem nicht immer gleich eine Frage des Rechts, sondern zugleich der Unternehmenskultur und betrieblichen Gepflogenheiten. Seit einiger Zeit gehen Unternehmen dazu über, mit sogenannter Compliance - was so viel meint wie "Sicherung von Regeltreue" - regulatorischen Risiken präventiv zu begegnen. Aus der Compliance-Überwachung ist beinahe ein eigener Wirtschaftszweig geworden. Längst haben Unternehmen Compliance-Officer installiert, obwohl vor allem in größeren Organisationen seit eh und je kein Mangel an Rechtsabteilungen und Justiziaren besteht.

Leicht lässt sich sehen, dass zwischen dem, was aus der Umwelt der Unternehmen gefordert wird und dem, was sie intern leisten, nicht immer Übereinstimmung besteht. Unternehmen müssen im Innern operativ "funktionieren", was auch bedeutet, die selbst gesetzten Regeln einzuhalten, um sich damit äußerlich zu legitimieren. Gleichwohl gibt es keine widerspruchsfreie Organisation. Unternehmen sind äußeren und inneren Zwängen ausgesetzt. Unterschiedliche Interessen werden in ihnen gebündelt. Etwaige Unstimmigkeiten kann kein Unternehmen ungebremst an die für Kunden oder Investoren sichtbare Schauseite gelangen lassen. Der Wirtschaftswissenschaftler Nils Brunsson beschreibt dies als "organisierte Heuchelei". In der Außendarstellung eines Unternehmens werden jene Aspekte hervorgehoben, die das Unternehmen zuvörderst positiv prägen sollen. Vor allem Ideale und Werte kommen kommunikativ zum Einsatz.

Richard Beckmann

Richard Beckmann ist Rechtsökonom am Institut für deutsches und internationales Zivilverfahrensrecht der Universität Bonn.

(Foto: Barbara Frommann/oh)

Innerhalb der Organisation hingegen müssen die Widersprüche austariert werden. Und hier werden "weichere" Facetten der Regelabweichung gelegentlich zugelassen. Um es vorweg zu schicken: In der Steuerung einer Organisation wird darauf zu achten sein, kein Management gegen alle möglichen Regelbrüche zu verfolgen, sondern stattdessen ein solches, das zwischen Regelleitung und -abweichung ein angemessenes Verhältnis sucht. Dies erscheint zunächst kontraintuitiv, ist es doch die Idee einer fairen Wirtschaftsordnung, dass alle Adressaten einer Regel diese gleichermaßen einzuhalten haben. Nicht verwunderlich ist daher das zur Zeit primäre Ziel von Compliance, Regelabweichungen tunlichst zu hemmen und Sanktionskulissen für Unbelehrbare herzurichten.

In diesem Zusammenhang verdienen unseres Erachtens zwei Aspekte größere Aufmerksamkeit. Erstens: Das Verhältnis von Personen und Regeln in Organisationen ist seit jeher von einer - nennen wir es - elastischen Reflexivität geprägt. Im Grundsatz den Regeln unterworfen, müssen Beschäftigte ausnahmsweise von der Regel abweichen, wenn diese zu statisch ist, den Arbeitsfluss hemmt oder besondere Umstände zu überwinden oder unbillige Ergebnisse zu vermeiden sind. Regeln sollen zwar das Verhalten steuern (Hinweisfunktion), sie müssen umgekehrt jedoch auch entwickelt werden (Gestaltungsfunktion). Zudem kann so mancher Fall gar nicht geregelt sein, weil er bisher nicht aufgetreten ist; oder er spielt sich in den berühmten "Grauzonen" ab: Mit der Zeit werden Regeln gedehnt, Abweichungen toleriert oder sogar stillschweigend vorausgesetzt.

Marcel Schütz

Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School Hamburg und lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld.

(Foto: Kevin Knoche/oh)

Zweitens ist zu fragen, ob es ausreicht, Diskussionen über Regelleitung und -einhaltung allein mit Verweis auf das Individuum zu führen. Zu wenig beachtet bleibt recht häufig, dass alles Handeln der Arbeitswelt sich in oder mit Organisationen abspielt. Während Compliance primär auf individuelles Vermögen der Regeltreue abstellt, treten regelmäßig organisatorische Abhängigkeiten und Zwänge hinzu, die mal unbedeutend, mal schwerwiegend ein verstecktes oder offensichtliches Fehlverhalten prägen oder befördern. Zwar folgen Organisationen zunächst formalen Regeln, also solchen, die bewusst und sichtbar gesetzt wurden und wirken. Daneben jedoch gelten gleicherweise die undurchsichtigen, ungeschriebenen, die latenten Regeln: Soll verderbliche Ware im Supermarkt an einem heißen Sommertag wirklich streng nach Vorschrift entsorgt werden oder kann dem Mangel nicht eher durch Notverzehr nach Feierabend im Kollegenkreis begegnet werden? Auch was gar nicht formalisiert ist, kann bestimmten, impliziten Regeln folgen: Man nehme nur das rege Unterleben der inoffiziellen Korridorgespräche, der halbdienstlichen Dialoge in Kaffeeküchen oder beobachte sehr eilige, provisorische Abreden.

Regelabweichung ist also im Grundsatz zu meiden, kann aber im Einzelfall und in gewissem Grade nützlich sein. In Sonderheit wenn es um Innovation und organisatorische Änderung geht, ist diese Einsicht nicht neu. Gewiss besteht ein schmaler Grat zwischen dem, was gerade noch möglich ist und unerwünschten Eigendynamiken, die sich schadhaft entfalten. Pikanterweise ist nützliche Regelabweichung weder gut darzustellen, noch einfach zu managen.

Dennoch wäre es zu wünschen, die Organisation von und nicht nur gegen Regelabweichungen stärker in den Blick zu nehmen. Man könnte eine Weiterentwicklung von Compliance angehen, die juristische Facetten ebenso rechtzeitig erfasst, wie sie weniger justiziable Phänomene mit größerer Defensive bewertet. Dazu müsste die Compliance-Kontrolle aber "lernen", sich selbst zu beschränken. Und zwar im engeren Korsett primär rechtlicher Kategorien und weniger ausufernd in moralische oder eher "moralisierende" Spielarten. Es ist einerseits verständlich, drohenden Haftungsrisiken mit mehr Kontrolle begegnen zu wollen. Andererseits führt übermäßige Formalisierung dazu, dass neue Informalitäten gedeihen und Abweichungen noch geschickter unternommen werden. Die Unsicherheiten, die mit einer wirtschaftlichen Organisation notwendig verbunden sind, lassen sich nicht per Anordnung beseitigen. Man würde dem Unternehmen wichtige Elastizitäten rauben. Mitarbeiter könnten darauf bedacht sein, sich aus Angst vor der Sanktion weitgehend aus der Verantwortung zu nehmen und eigenes Handeln zu "vernebeln", um ja nicht ins Fadenkreuz der Compliance zu geraten. Spätestens dann wäre nicht mehr gewonnen als zu jener noch nicht lange vergangenen Zeit, als man es für vertretbar hielt, auch ohne alle denkbaren Compliance-Regularien einfach eine ganz normale, im Großen und Ganzen eine rechtssichere Organisation zu führen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: