Artenschutz:Handbuch zum Überleben

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Drei Jahre lang haben Experten Tausende Studien ausgewertet: Nun verabschieden 132 Staaten eine Bilanz zum Zustand der Artenvielfalt.

Von Tina Baier, München

A demonstrator wears a bee mask during a demonstration for biodiversity called by the World Wide Fund for Nature (WWF) on May 4, 2019 in Paris. (Photo by KENZO TRIBOUILLARD / AFP) (Foto: KENZO TRIBOUILLARD/AFP)

Ein umfassender Bericht zum ökologischen Zustand der Erde ist am Wochenende in Paris verabschiedet worden. Die Einigung der 132 Mitgliedsstaaten des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) könnte entscheidend sein für das Überleben vieler Tier- und Pflanzenarten auf der Erde. Schon jetzt ist klar, dass die erste umfassende Bilanz seit 14 Jahren ziemlich erschreckend ausfallen dürfte. Details des Berichts werden am Montag bekannt gegeben. "Die Wissenschaftler haben uns mit diesem Bericht die gelbe Karte gezeigt", sagt Günter Mitlacher, der bei der Umweltschutzorganisation WWF die Abteilung Internationale Biodiversitätspolitik leitet und die Verhandlungen in Paris verfolgt hat. Der Bericht sollte am Sonntag den G-7-Umweltministern auf einer Tagung im französischen Metz vorgestellt werden.

"Das Thema ist genauso wichtig wie der Klimawandel", sagt Mitlacher, und "muss deshalb ebenfalls zur Chefsache werden". Manche sprechen bereits jetzt vom 1,5-Grad-Moment des Artenschutzes. Der IPBES ist nämlich das Pendant zum Weltklimarat IPCC, dessen Berichte Wegbereiter für das Pariser Klimaschutzabkommen waren. Darin wurde im Jahr 2015 erstmals das Ziel formuliert, den Anstieg der Temperatur auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen, um die Risiken des Klimawandels möglichst gering zu halten.

Dass sich die Erde in einem schlechten Zustand befindet, ist schon lange bekannt, Wissenschaftler warnen daher vor dem sechsten großen Massensterben. Als fünftes Artensterben führen Biologen das Verschwinden der Dinosaurier vor etwa 65 Millionen Jahren. Im Unterschied zu damals ist das aktuelle Ereignis allerdings menschengemacht. Die Spezies Homo sapiens breitet sich in allen Winkeln der Erde aus, bebaut alles oder pflügt es um und zerstört damit den Lebensraum anderer Arten. Selbst die wenigen Orte, an denen der Mensch noch nicht war, verpestet er mit dem Ausstoß seiner Schadstoffe. Erst kürzlich haben Zoologen festgestellt, dass in einem scheinbar unberührten Regenwaldgebiet in Puerto Rico die Insekten verschwinden und mit ihnen Vögel, Echsen und Frösche, die diese Tiere fressen.

Drei Jahre lang haben 150 Experten aus 50 Ländern Tausende Studien ausgewertet

Schätzungen zufolge verschwinden jedes Jahr Zehntausende Tiere und Pflanzen für immer von der Erde. Ein großes Problem ist, dass man über viele Arten viel zu wenig weiß, um das Ausmaß des Schwunds beurteilen, geschweige denn um etwas dagegen unternehmen zu können. Mit am besten erforscht sind die Amphibien, die in den vergangenen 50 Jahren drastisch dezimiert wurden. Verlässliche Daten gibt es auch zu den Vögeln in Europa. Sie zeigen, dass besonders solche Arten, die in der Agrarlandschaft leben, unter Druck stehen. Deutlich dünner ist das Wissen über die Insekten. Die bekannteste Studie zum Insektenschwund stammt aus Deutschland und belegt, dass die Zahl der Insekten in den vergangenen 30 Jahren stark zurückgegangen ist. "Vor allem die Landnutzung zeichnet sich seit Langem als entscheidender Treiber des Biodiversitätsverlusts ab", sagt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, der die Arbeit als Co-Vorsitzender des IPBES mitgeleitet hat.

In dem jetzt vorliegenden, 1000 Seiten starken Werk ist das gesammelte Wissen der Experten zusammengefasst. "Wir haben es geschafft, in den letzten drei Jahren die aktuellsten Fakten zum weltweiten Zustand unserer Ökosysteme zusammenzutragen, Szenarien ihrer zukünftigen Entwicklung zu beschreiben und Handlungsoptionen aufzuzeigen", sagt Settele. Drei Jahre lang haben 150 Experten aus 50 Ländern dafür Tausende Studien ausgewertet. Ein großer Vorteil des Berichts sei, dass die Ozeane genauso wichtig genommen werden wie die Landökosysteme, sagt Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, einer der Autoren. Oft werde übersehen, dass die Meere "genauso reich an Leben sind wie die Ökosysteme auf dem Land". Und genauso wichtig für das Überleben der Spezies Homo sapiens: "Der Sauerstoff für jeden zweiten Atemzug der Menschen wird von Algen im Meer produziert", sagt Gutt. Wie weit die Zerstörung der Meere und der Ökosysteme auf dem Land schon fortgeschritten ist, zeigt der Bericht. Jetzt müssen Politiker und Unternehmen die Fakten ernst nehmen und umsteuern.

© SZ vom 06.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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