Missbrauchsfall in Lügde:Reul geht zum Angriff über

Herbert Reul

NRW-Innenminister Reul muss gegen Ermittlungspannen im Missbrauchsfall Lügde vorgehen.

(Foto: Ina Fassbender/dpa)
  • Nach den Ermittlungspannen von Lügde steht Innenminister Reul in der Kritik.
  • Rücktrittsforderungen weist er entschieden zurück.
  • Reul gilt als Verfechter der Polizei, nun will er eine neue Fehlerkultur einführen.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Herbert Reul kocht, in seinem Innern brodeln längst die Worte. Doch es hilft nichts, er muss das aushalten. Und erst mal zuhören, wie sie im Düsseldorfer Landtag über ihn herfallen. Also hält sich Nordrhein-Westfalens Innenminister sekundenlang die rechte Hand vor den Mund. Er wippt auf seinem Stuhl vor und zurück, während vorige Woche im Innenausschuss des NRW-Parlaments die Opposition seinen Rücktritt verlangt: "Sie haben das Vertrauen der Bevölkerung verloren", ruft ein SPD-Abgeordneter in den Saal, "Ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit ist erschüttert!" Reul nestelt an seiner Krawatte herum, blättert in Papieren. Schweigen ist für ihn Schwerstarbeit.

Reul durchlebt die erste Krise seiner knapp zweijährigen Ministerzeit. Der Skandal um die immer neuen Polizeipannen bei den Ermittlungen auf dem Campingplatz in Lügde, wo mindestens 41 Kinder über viele Jahre sexuell missbraucht worden waren, setzt dem 66-jährigen Christdemokraten zu. Reul nimmt das persönlich, wie fast alles im Amt. Das Schicksal der Opfer, so sagt er, "das macht mich wahnsinnig". Er wolle "alles tun, um dieses monströse Verbrechen aufzuklären". Der kleine Mann mit dem zerknautschten Gesicht gibt verbal immer Vollgas, und es schert ihn nicht, wenn im Übereifer mal eine Sentenz missrät. So wie neulich in Essen, als er der lange unterschätzten Clan-Kriminalität im Ruhrgebiet den Kampf ansagte und sich dabei zu diesem Satz verstieg: "Ich bin für Handeln, nicht für Nachdenken!"

Auch im Innenausschuss vorige Woche hat Reul dann irgendwann losgelegt. Es seien nicht die Forderungen der Opposition nach seinem Abgang als Minister gewesen, die ihn gewurmt hätten, versichert Reul im Gespräch: "Aber woher wollen die denn wissen, dass mich die Leute fallen lassen?" Exakt diese Behauptung habe ihn "ungemein geärgert, ja sogar verletzt". Weshalb er im Ausschuss spontan den persönlichen Brief einer Frau aus der Mappe gekramt hat, der am Morgen in seiner Ministerpost gelegen hatte. "Ich bin selbst Opfer", liest Reul den Abgeordneten laut vor, und aus den folgenden Zeilen wird deutlich, dass die Bürgerin - anders als der politische Gegner - seinem Versprechen zur Aufklärung aller Lügder Sexualverbrechen glaubt. "Bitte treten Sie bloß nicht zurück!", schließt das Schreiben.

Reul galt früher als Wadenbeißer

Während Reul den Brief seiner Kronzeugin zusammenfaltet, richtet er seinen Appell an SPD und Grüne: "Sie können mich fünfmal zum Rücktritt auffordern, das ist mir egal - solange wir in der Sache weiterkommen." Die gesamte Gesellschaft habe doch den sexuellen Missbrauch von Kindern über Jahrzehnte nicht ernst genug genommen: "Ja, das gilt auch für die Polizei!" Reul breitet beide Arme aus zum Schlusswort: Es brauche nun "die fraktionsübergreifende Geschlossenheit" aller Parlamentarier, um das Übel zu bekämpfen.

So redet der neue, der gereifte Reul. Dreieinhalb Jahrzehnte Berufspolitik hat dieser frühere Studienrat inzwischen hinter sich. 19 Jahre lang saß er im NRW-Landtag, es folgten 13 Jahre im Europaparlament, obendrein diente er seiner Landes-CDU zwölf Jahre als Generalsekretär. Früher galt Reul als Wadenbeißer: Wenn der junge Abgeordnete in den Achtzigerjahren in Düsseldorf ans Mikrofon trat, verließ Landesvater Johannes Rau (SPD) genervt den Plenarsaal. "Zugegeben, ich habe Politik oft genug selbst skandalisiert, um daraus parteipolitisches Kapital zu schlagen", räumt Reul ein und winkt ab. "Das mach ich nicht mehr mit." Dieser leutselige Rheinländer wirkt, als sei er mit sich selbst im Reinen. Der Senior fühlt sich frei - auch vom Ehrgeiz nach weiteren, höheren Ämter: "Ich bin so alt, ich muss nicht mehr auf der Karriereleiter herumkrabbeln."

Reul hat leise umgelernt. Den konservativen Katholiken plagt nicht die Reue über frühere Nachreden. "Nein, ich will heute einfach Ergebnisse erzielen", sagt er. Krawall hilft da nicht, er braucht Kompromisse. Für seine 42 000 Polizisten hat er so schon allerlei rausgeschlagen: neue Dienstwagen und schusssichere Schutzhelme zum Beispiel, außerdem 900 Millionen Euro zur Sanierung maroder Wachen und Polizeischul-Gebäude. Und voriges Jahr gelang es ihm, sein anfangs heftig bekämpftes Polizeigesetz mit großer Mehrheit durchs Parlament zu bringen. Reul lud Burkhard Hirsch, seinen altliberalen Kritiker, zu stundenlangen privaten Gesprächen, entschärfte die eigenen Entwürfe - und ergatterte am Ende sogar die Zustimmung der SPD. Ein Meisterstück.

Ein Schock hingegen war für Reul, was er seit Januar dazulernen musste. Da entdeckte er plötzlich, wie "meine geliebte Polizei" kläglich versagt hatte bei den Ermittlungen in Lügde. Der wohlmeinende Onkel, der Kümmerer, der seine Truppe gern noch an Silvester im Nachtdienst besuchte, mutierte zum gestrengen Minister für Clans, Campingplätze und Polizeiversagen. Dieselbe Linie, die für Waldbesetzer im Hambacher Forst oder für Raser wie Randalierer gelte, müsse auch die eigene Truppe respektieren: "Null-Toleranz." Reul versetzte Polizeiführer, geißelte öffentlich die grotesken Versäumnisse der Polizisten am Tatort: "Selbst meine Omma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt."

Geht noch etwas schief, rollen Köpfe

Reuls Überlebensstrategie lautet jetzt Vormarsch statt Rücktritt. Nicht weniger als eine "neue Fehlerkultur" im offenen Umgang mit Pannen will er Führungsstäben wie Hundertschaften einhauchen. Das Skandaldossier hat er seinen engsten, hochrangigsten Mitarbeitern anvertraut. Was auch bedeutet: Geht noch etwas schief, rollen Köpfe ganz oben.

Ob Reul selbst den Fall durchsteht, ist noch nicht ausgemacht. Im Februar hatte er im Landtag versprochen, seine Leute würden in Lügde "jeden Stein umdrehen, notfalls wird der Stein auch geröntgt". Das war zu verwegen, der Instinktpolitiker weiß es längst. Es waren diesmal nicht seine eigenen Worte, mit denen er sich da in die Bredouille redete. "Das hat man mir in die Rede reingeschrieben." Und er hat nicht aufgepasst.

Frühes Wissen

Das schreckliche Ausmaß von Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde war dem nordrhein-westfälischen Innenministerium bereits seit dem 11. Januar 2019 bekannt - also drei Wochen, ehe Innenminister Herbert Reul (CDU) am 31. Januar anordnete, den Fall den offensichtlich überforderten Ermittlern im Kreis Lippe zu entziehen. Nach Informationen des WDR-Magazins "Westpol" alarmierte die Kreispolizeibehörde Lippe schon am 11. Januar ihre Vorgesetzten in Reuls Ministerium darüber, dass "möglicherweise 30 und mehr Kinder und Jugendliche (überwiegend Mädchen) Opfer der sexuell motivierten Praktiken" der beiden verhafteten Tatverdächtigen geworden seien. Zugleich meldete die Kripo Lippe nach Düsseldorf, man verfolge "Verdachtsmomente" auf Aktenmanipulation in einem Jugendamt (was sich später ebenfalls bewahrheite). Die Opposition im NRW-Landtag hat Reul wiederholt vorgeworfen, er hätte den Fall viel früher an das Polizeipräsidium Bielefeld übergeben müssen. Auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung teilte das Innenministerium mit, der Bericht aus Lippe vom 11. Januar sei damals dem Minister nicht persönlich vorgelegt worden. Reul selbst sagte der SZ, seine Ministerialbeamten hätten Lügde seinerzeit zwar "als Problem erkannt, aber noch geglaubt, der Fall sei in Lippe in guten Händen". Die Schwächen und Ermittlungspannen der dortigen Kreispolizei seien erst in den Wochen danach deutlich geworden. Christian Wernicke

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SZ-Podcast "Auf den Punkt"
:Missbrauch in Lügde: Wie ist so ein Desaster möglich?

Auf einem Campingplatz in Lügde in Nordrhein-Westfalen sollen mindestens 40 Kinder missbraucht worden sein. Die Behörden leisten sich eine Panne nach der anderen.

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