Reaktionen auf Wahl-Annullierung:"Das ist schlicht und einfach eine Diktatur"

Türkei - Anhänger von Ekrem Imamoglu 2019 in Istanbul

Unterstützer von Wahlsieger Imamoğlu protestieren gegen die Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul.

(Foto: Getty Images)
  • Die Kommunalwahl in Istanbul soll wiederholt werden. Das hat die oberste türkische Wahlbehörde entschieden - nach einer Beschwerde der Regierungspartei AKP.
  • Bei der Opposition löst die Entscheidung wütende Proteste aus.
  • Die EU fordert unverzüglich eine Begründung für die Entscheidung.
  • Präsident Erdoğan sprach hingegen von einem "wichtigen Schritt zur Stärkung unserer Demokratie".

Es war knapp bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl im März. Ekrem İmamoğlu von der säkularen Partei CHP hatte mit wenig Vorsprung gewonnen, während der Bürgermeisterkandidat der regierenden AKP, Binali Yıldırım, unterlag. Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan legte Beschwerde ein: Es sei angeblich zu "Regelwidrigkeiten" gekommen. Dieser Beschwerde hat die höchste türkische Wahlbehörde nun nachgegeben - und entschieden, die Kommunalwahl in Istanbul wiederholen zu lassen.

Damit hat die türkische Wahlkommission wütende Proteste der Opposition ausgelöst. Ekrem İmamoğlu wird das Mandat aberkannt. Er verurteilte die Annullierung und rief am Montagabend vor jubelnden Anhängern: "Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen." Die Menge skandierte "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" und forderte die Mitglieder der Wahlkommission zum Rücktritt auf.

In mehreren Bezirken Istanbuls standen die Menschen an den Fenstern und schlugen auf Töpfe und Pfannen - eine Protestform, die sich während der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 etablierte hatte. AKP-Sprecher Ömer Çelik forderte Kritiker dazu auf, die Entscheidung der Wahlkommission YSK zu akzeptieren.

CHP-Vizechef Onursal Adıgüzel zeigte sich empört: "Gegen die AKP bei der Wahl anzutreten ist erlaubt, aber gewinnen ist verboten", schrieb er auf Twitter. "Dieses System, das den Willen des Volkes mit Füßen tritt und die Justiz ignoriert, ist weder demokratisch noch legitim. Das ist schlicht und einfach eine Diktatur."

Der türkische Präsident Erdoğan begrüßte die Entscheidung der Wahlbehörde hingegen. Er sprach am Dienstag vor seiner Regierungspartei AKP von einem "wichtigen Schritt zur Stärkung unserer Demokratie". Zugleich verteidigte er den Antrag auf Wiederholung der AKP. "Wir glauben aufrichtig daran, dass es bei den Wahlen in Istanbul eine organisierte Korruption, eine totale Gesetzlosigkeit und Rechtswidrigkeit gegeben hat", sagte Erdoğan.

Istanbul wurde 25 Jahre lang von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert. Die Niederlage für die AKP war ein Gesichtsverlust für Erdoğan, der einst selbst Bürgermeister von Istanbul war. Der Präsident hatte am Samstag erneut deutlich gemacht, dass er die Abstimmung für unrechtmäßig hält. Es habe "Makel" und Korruption gegeben, sagte er. Diese zu beseitigen, werde die Hohe Wahlkommission und die Nation erleichtern. Damit erhöhte er auch den Druck auf die Hohe Wahlkommission, dem Antrag auf Annullierung stattzugeben. Ein Sprecher Erdoğans bezeichnete die Annullierung als "Sieg der türkischen Demokratie". Es werde sichergestellt, dass das Ergebnis die Aussage der Wähler widerspiegele.

Kritik aus Deutschland und EU

Die EU rief die zuständige Wahlkommission dazu auf, unverzüglich Einblick in die Gründe ihrer Entscheidung zu gewähren. "Die Begründung für diese weitreichende Entscheidung, getroffen in einem höchst politisierten Kontext, sollte unverzüglich einer öffentlichen Untersuchung zugänglich gemacht werden", erklärten die EU-Chefdiplomatin Federica Mogherini und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn am Montag.

Freie, faire und transparente Wahlen seien essenziell für jede Demokratie und auch für die Beziehung zwischen der EU und der Türkei, heißt es in ihrer Stellungnahme. "Es ist wichtig, dass die Istanbuler Wahlkommission ihre Arbeit in einer unabhängigen, offenen und transparenten Art ausüben kann." Internationale Wahlbeobachter müssten auch bei der Neuwahl willkommen sein.

Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth reagierte empört. "Die Entscheidung der Wahlkommission ist auch Ergebnis massivsten Drucks von ganz oben", sagte die Grünen-Politikerin. Europarats-Generalsekretär Thorbjørn Jagland wählte ebenfalls kritische Worte: "Die Entscheidung des Hohen Wahlrates hat das Potenzial, das Vertrauen der türkischen Wähler in die Wahlbehörden schwer zu beschädigen." Die notwendigen Voraussetzungen für freie und faire Wahlen müssten vor dem Wahltag überprüft werden und nicht danach.

Das türkische Außenministerium wies die Kritik umgehend zurück. "Wir lehnen die politisch motivierte Kritik ab, die manche ausländischen Gesprächspartner über die Entscheidung und die YSK äußern."

Landesweit wurde Erdoğans AKP bei der Kommunalwahl stärkste Partei. Allerdings verlor sie in Metropolen Zuspruch und verlor auch die Hauptstadt Ankara. Nach Ansicht von Beobachtern des Europarats verlief die Kommunalwahl an sich zwar grundsätzlich geordnet, allerdings kritisierten sie die Umstände der Wahl wie mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit. Ein Großteil der Medien wird direkt oder indirekt von der Regierung kontrolliert.

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