Syrien:Angriff auf den letzten Zufluchtsort

Konflikt in Syrien - Luftangriffe Idlib

Ein Mann vor einem zerstörten Gebäude in der Stadt Saraqeb. Die Angriffe verschärfen die humanitäre Not in der Region Idlib.

(Foto: dpa)

Mit Hilfe Russlands bombardieren Kampfjets des syrischen Regimes die Rebellenhochburg Idlib. Während Assad seine Macht stabilisiert, wird die Lage für die Menschen immer desaströser.

Von Dunja Ramadan

Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses Szenario eintritt. Seit Tagen wird die Region um die einzige verbliebene syrische Rebellenhochburg Idlib und die angrenzende Provinz Hama von russischen und syrischen Kampfjets bombardiert. Die Armee des syrischen Machthabers Baschar al-Assad möchte mit der Großoffensive die letzte große Provinz des Landes zurückerobern.

Der Großteil Syriens ist nach dem mittlerweile acht Jahre dauernden Krieg wieder unter seiner Kontrolle. Angekündigt hatte er die Offensive schon vor zweieinhalb Jahren mit den Worten, er werde "jeden Quadratzentimeter" Syriens "befreien".

Unterstützt wird Assad von der russischen Luftwaffe. Die al-Qaida-nahe Organisation Hayat Tahrir al-Scham (HTS), die militärisch weitgehend die Kontrolle über die Provinz Idlib und Teile von Hama hat, kündigte bereits Vergeltung an: "Jeder Versuch der russischen Besatzungstruppen, in unser reines, befreites Land zu gelangen, wird nur auf Stahl und Feuer treffen", sagte ein Kommandant von Hayat Tahrir al-Scham in einer Videobotschaft.

Die Provinz Idlib war für viele Menschen in Syrien der letzte Zufluchtsort, für Oppositionelle, Dschihadisten, Rebellenkämpfer und Zivilisten, die sich weigerten, unter Assads Herrschaft zu leben. Russland schickte sie - nachdem Moskau und Damaskus Städte wie Homs, Aleppo oder Ghouta in Schutt gebombt hatte - nacheinander alle nach Idlib. Doch nun gibt es keinen weiteren Ausweg für die etwa drei Millionen Zivilisten. Hunderte Menschen sind laut UN-Angaben bereits getötet und verletzt worden. Auch mehrere Kliniken, Gesundheitszentren und Schulen wurden bombardiert.

Etwa 150 000 Zivilisten sind nach Angaben der UN auf der Flucht. Sie fliehen auch vor Helikoptern, die auf ihre Dörfer Fassbomben abwerfen. In Saraqeb, im Süden Idlibs, haben Zehntausende Familien ihre Häuser verlassen. Augenzeugen berichten von Frauen und Kindern, die zu Fuß in nahegelegene Wälder geflüchtet sind, um sich unter den Bäumen vor den Luftangriffen zu schützen.

Sie haben nur das Nötigste mitgenommen und hoffen auf ein Ende des Bombardements, berichtet der Fotograf Tim al-Sioufi, der am Mittwoch dort war. Viele Menschen hätten bereits eine Flucht hinter sich und seien verzweifelt, berichtete al-Sioufi. Gerade erst habe der islamische Fastenmonat Ramadan begonnen, die Menschen hatten sich eine geruhsame Zeit in ihrem Zuhause gewünscht und nun sitzen sie mit wenig Proviant unter freiem Himmel. Al-Sioufi sagt, er selbst sei in die Nähe von Aleppo geflüchtet.

Doch auch die Zufahrtsstraßen in andere Städte werden bombardiert. Assad will die Kontrolle über die strategisch wichtigen Autobahnen von Aleppo nach Hama und Latakia an der Mittelmeerküste zurückgewinnen. Die Straßen gelten als wichtige Handelsrouten zwischen der südlichen Grenze mit Jordanien und der im Norden mit der Türkei. Da das Regime in Damaskus mit einer Wirtschaftskrise zu kämpfen hat und den Rückhalt in der Bevölkerung nicht verlieren will, hat der Vormarsch auf Idlib auch wirtschaftliche Beweggründe.

Für drei Millionen Zivilisten gibt es nun keinen Ausweg mehr

Den systematischen Beschuss der Zivilbevölkerung scheint das Regime auch diesmal in Kauf zu nehmen. Derzeit versuchen Zehntausende Zivilisten, ins türkisch-syrische Grenzgebiet zu gelangen. Doch auch dort stecken sie fest, die Grenzübergänge sind geschlossen. "Die Menschen hoffen immer noch auf ein Eingreifen der Türkei", sagt al-Sioufi. Doch aus Ankara kam noch keine Kritik an der Großoffensive. Selbst nach einem Artillerieangriff vor einigen Tagen auf einen türkischen Beobachtungsposten in der nördlichen Provinz Idlib, wohl von syrischen Regierungstruppen ausgeführt, blieb eine Reaktion aus.

Dabei hatten sich Russland und die Türkei im September auf eine entmilitarisierte Zone rund um die Provinz Idlib geeinigt, um eine syrische Militäroffensive auf die Rebellenenklave zu verhindern. Die Türkei versprach, sich um die Entwaffnung und Auflösung der Extremistengruppe HTS zu bemühen, doch konnte sie keine Erfolge verbuchen. Auch wurde der vereinbarte Waffenstillstand von allen Seiten mehrmals gebrochen. Deshalb rechtfertigt die Regierung in Damaskus ihre Großoffensive nun mit anhaltendem Beschuss durch die HTS. So berichtete die syrische Staatsagentur Sana, das Militär greife Stellungen von Aufständischen "als Vergeltung für ihre Verstöße gegen die Waffenruhe" an.

"Noch mehr Syrer will Europa auf keinen Fall", sagt ein Aktivist

Gründe für Erdoğans Zurückhaltung gäbe es einige: Nach der türkischen Offensive auf den kurdischen Kanton Afrin im vergangenen März, verkündete Erdoğan ziemlich schnell, auch die von der Kurdenmiliz YPG kontrollierte syrische Stadt Tall Rifaat im Norden Aleppos unter seine Kontrolle bringen zu wollen. Ankara stuft die YPG wegen ihrer engen Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK als Terrororganisation ein.

Die YPG dagegen gilt als wichtiger Partner der USA im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Doch angesichts des Vakuums, das die USA nach der überraschenden Verkündung des Abzugs ihrer Truppen aus Syrien hinterlassen haben, könnte Erdoğan die Gunst der Stunde für sich entdeckt haben - und die uneinsichtigen Dschihadisten der HTS im Gegenzug den Russen überlassen.

Möglicherweise wird diese Zurückhaltung weitreichende Folgen haben: An der türkisch-syrischen Grenze könnte sich die Lage verschlimmern. Ein Aktivist aus dem umkämpften Maarat al-Numan im Süden Idlibs, der aus Furcht vor Repressalien nicht genannt werden möchte, erzählt von geplanten Demonstrationen an der Grenze. "Die Menschen haben nichts mehr zu verlieren, sie könnten auch versuchen mit Gewalt ins Land zu kommen", sagt er am Telefon. Vielleicht würde sich Europa dann um eine politische Lösung des Konflikts bemühen. "Denn eines haben wir hier mitbekommen: Noch mehr Syrer will Europa auf keinen Fall."

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