Architektur:Der verdienstvollste Rechte der Weltgeschichte

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Er ist verschrien als Bad Boy der Gestaltung, als kalt, unsinnlich und lebensfern. Doch so viel Hass hat er nicht verdient. Ein Lob des rechten Winkels.

Von Gerhard Matzig

Leider oder zum Glück, je nachdem, wo man sich politisch verortet, sollen die Rechten ja mächtig im Aufwind sein. Mag sein - oder auch nicht. Doch der berühmteste und bedeutsamste, ja verdienstvollste Rechte der Weltgeschichte befindet sich seit einiger Zeit in einer tiefen Sinnkrise. Er gilt als überholt, gestrig, langweilig, autokratisch und tumb. Möglicherweise sogar als gefährlich staatszersetzend. So retardierte dieser Rechte vom früheren futuristischen Glücksversprechen zum heutigen Synonym einer rätselhaft melancholischen Apokalyptik. Zu schweigen vom Bad-Boy-Image als Totengräber der Ästhetik.

Da ist, spätestens jetzt, im unendlichen Jubeljahr zum 100. Bauhaus-Geburtstag, das sich auch dem Rechten verdankt, der Versuch einer Ehrenrettung dringend angezeigt: Der Rechte, er soll leben hoch und höher. Und rechter auch. Gemeint ist allerdings kein Politikum, sondern jener rechte Winkel, der als geomathematisches Konstruktionselement tatsächlich auch als "Rechter" bezeichnet wird.

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Was allerdings weniger mit rechts, links, rinks oder lechts zu tun hat - dafür mehr mit "aufrecht". Schon Euklid wusste Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung: "Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, einander gleiche Nebenwinkel bildet, dann ist jeder der gleichen Nebenwinkel ein Rechter." Und vom Mathematiker David Hilbert stammt die Definition, wonach der rechte Winkel im Geradenschnitt der einzige unter unendlich vielen möglichen Winkeln ist, der exakt so groß ist wie sein Nebenwinkel. Man muss kein zwanghaft neurotisch die Bleistifte auf dem Schreibtisch rechtwinklig zur Kante ausrichtender Ordnungsfanatiker sein, um die kartesianische Klarheit orthogonaler Raumbezüge als schön und elegant zu empfinden.

Die erste Ordnungsstruktur der Welt

Der insofern auch richtige und sogar rechte "Rechte" aber war nach dem Satz des Pythagoras, der bekanntlich zum Folterinstrumentarium der Mittelstufe gehört (in allen rechtwinkligen Dreiecken ist die Summe der Flächeninhalte der Kathetenquadrate gleich dem Flächeninhalt des Hypotenusenquadrats), auch deshalb für die Welt des Bauens so bedeutsam, weil er sich gemäß der euklidischen Geometrie auch ohne mechanische oder elektronische Messgeräte konstruieren ließ. Nur mit dem Satz des Pythagoras - sowie mit Hilfe einer Schnur. In einer guten Maurerausbildung lernt man das noch heute.

Wenn man eine insgesamt zwölf Meter lange Schnur in Abständen von drei, vier und fünf Metern markiert und zu einem Dreieck auslegt, so wird es rechtwinklig. Das ist die "3-4-5-Regel". Denn 3 mal 3 ergibt 9; 4 mal 4 ergibt 16; und 9 plus 16 ergibt exakt jene 25, die sich auch aus dem Hypotenusenquadrat des fünf Meter langen Schnurabschnitts ergeben. Der rechte Winkel befindet sich demnach zwischen dem drei und dem vier Meter langen Stück. Alles klar? Vielleicht muss man Ingenieur oder Vermessungstechniker sein, um sich über dieses Wunder zu freuen. Alle anderen können einem natürlich echt leidtun. Jedenfalls gäbe es, von den ältesten Siedlungen im Neolithikum der Erdgeschichte bis heute, kein Bauen und keine Bauten ohne Pythagoras. In der Zweidimensionalität wie im Raum: Rechte Winkel erleichterten das Bauen als erste und einfach anzuwendende Ordnungsstrukturen der Welt.

Schon die Architektur im alten Ägypten war ohne rechte Winkel undenkbar. In der römischen Bautechnik wurde schließlich die "Groma" (eine Mischung aus Lot und Visierkreuz) erfunden, um möglichst präzise zum rechten Winkel zu gelangen. Der rechte Winkel ist so etwas wie die vitruvianische Urhütte: die Mutter aller baukulturellen Ambition. Der Ahnherr aller Planung. Ohne die Auf- oder sonst wie Rechten gäbe es keine gebaute Welt. Zumindest wäre sie ganz anders als alles, was wir aus der Baugeschichte kennen. Denn der rechte Winkel ist auch innig verwoben mit den ersten, einfachen Materialfügungen. Was die Schrift in der Welt der Immaterialität ist, das ist der rechte Winkel in der Welt der Räume.

Doch spätestens seit der österreichische Künstler Friedensreich Hundertwasser (der zwar bis zu seinem Tod im Jahr 2000 weder Architekt noch Deutscher war, in einer Umfrage aber dennoch als "bekanntester deutscher Architekt" überzeugen konnte), seit also Hundertwasser am 4. Juli vor sechzig Jahren das legendäre "Verschimmelungsmanifest" in der Abtei Seckau in der Steiermark vortrug, befindet sich der rechte Winkel am öffentlichen Pranger. In diesem Manifest erklärte Hundertwasser dem Rationalismus, dem Funktionalismus, ja gleich jedweder Modernität, vor allem aber dem "Kult des rechten Winkels" den ideologischen Krieg. Der rechte Winkel sollte von der "guten Kurve" abgelöst werden.

Die Baugeschichte ist seither eine andere, denn die alternative Bauphilosophie, die sich gegen das Bauhaus-Erbe richtet, hat sich alles in allem durchgesetzt. Positiv formuliert kann man anerkennen, dass Hundertwasser als Kitsch-Heroe zugleich ein Prophet des heutigen Bauens war. Die Rückkehr des Ornaments forderte er. Zu Recht. Das (naturgemäß schon länger bekannte) "organische Bauen" machte er populär. Ebenfalls zu Recht. Die Bedeutung der Ökologie in der Ökonomie der Baukultur nahm er vorweg. Auch richtig.

Geschmäht als "langweilig", "einfallslos", sogar "menschenverachtend"

Das gilt zumindest in emblematischer Hinsicht auch für das Hundertwasserhaus in Wien, obschon es eher zum Postkartenmotiv neigt als zum echten Bio-Produkt. Und lange vor vielen anderen Experten erkannte Hundertwasser die Notwendigkeit der Partizipation sowie das zutiefst humane "Streben nach Schönheit". Wie sich aber bald zeigte: Die Welt strebt zwar nach Schönheit - aber zunehmend tut sie das ohne rechte Winkel. Zu Gunsten einer eher anthroposophisch gemeinten (selten davon durchdrungenen) Architektur, die sich oberflächlich an "natürlichen" Formen orientiert: gerundet organisch oder wild zerklüftet. Der rechte Winkel wird daher meist "gebrochen". Aufgelöst, quasi überwunden, abgetan.

Wann immer eine orthogonal organisierte Architektur, deren Formvokabular den rechten Winkel bis hinauf zum Flachdach nicht gerade ostentativ meidet, einer kritischen Öffentlichkeit begegnet, sind diese Verbalinjurien fällig: "Schuhschachtel", "Wohnregal", "Würfelhusten", "Schießscharten". Und "langweilig", "einfallslos" bis hin zu "menschenverachtend".

Ein alter Werbespot von McDonald's bringt das, was schon Ernst Bloch als "reisefertige", kofferartige Architektur verachtete, auf den Punkt fürs Kinopublikum: Ein Architekt zeigt einem jungen Paar das fertige Haus. Wobei das Wohnzimmer nur aus weißen Kacheln besteht - und aus rechten Winkeln. Da fasst sich die Frau ein Herz und fragt den Architekten, ob das nicht "etwas zu kühl" geraten sei. Sagt der Baukünstler, sardonisch grinsend und denkbar arrogant: "Wenn Sie was Heißes wollen, gehen Sie doch zu McDonald's!" Hahaha. Oder zum Designer Luigi Colani, der über ein zugegebenermaßen verwirrend kartesianisch geformtes WC mal lästerte: "Wie kann so ein Idiot etwas eckig machen, wo ein runder Arsch draufkommt!" Stimmt ja auch irgendwie.

Irgendwann gibt es den rechten Winkel wohl nur noch im Kamasutra

Der rechte Winkel ist ins Gerede geraten. Er scheint einer inhumanen Architektur innezuwohnen, einer Maschinenpräzision der Kälte. Der rechte Winkel gilt daher als naturfern. Was eher als intelligenzfernes Argument erscheint: In der Pyrit-Kristallstruktur gibt es eine Menge Rechtwinkligkeit. Ebenso in der Anatomie der Schneeflocken. Umgekehrt ist es wohl eher so, dass die biomorphe Architektursprache der Gegenwart, ein Rekurs auf die frühe Organik mit Mitteln leistungsstarker CAD-Programme (computer aided design), oft daran erinnert, dass wir die Natur zumeist nur mäßig erfolgreich imitieren. Nicht alles, was wie eine Seife aussieht, ist auch schon ein Fanal der Bio-Architektur.

So kann man sich den Tag bereits vorstellen, an dem der letzte rechte Winkel verbaut und danach wegen erwiesener Menschenfeindlichkeit verboten wird. Die "Im rechten Winkel"-Stellung wird es dann nur noch im Kamasutra geben. Oder in der nordostchinesischen Provinz Heilongjiang, wo vor einigen Jahren das Sportstadion saniert werden musste. Aus Zeit- und Kostengründen wurden die herkömmlichen, also lang gezogenen Kurven der Laufbahnen mit rechten Winkeln versehen. Die Bilder von Sportlern, die irritiert vor Winkeln standen, wo sanfte Schwünge hätten sein sollen, gingen damals um die Welt - und das Gelächter war groß. Das war vielleicht nicht gerade der beste Tag des rechten Winkels, den man am liebsten tröstend in den Arm genommen hätte. Richtig kuschelig ist er allerdings nicht.

© SZ vom 09.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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