Überwachung:China, Orwell und die Angst des Westens

Women are reflected in a mirror as they look at flowers being projected onto the wall and the floor of a room at a shopping mall in Shanghai

Die chinesischen Konsumenten werden umfangreicher überwacht als je zuvor.

(Foto: REUTERS)
  • Experten widersprechen dem Bild, das sich die internationale Öffentlichkeit von Chinas Scoring-System für seine Bürger macht.
  • Das System sei zumindest bisher weniger drakonisch als angenommen und würde von vielen Chinesen begrüßt.
  • Außerdem gibt es längst auch in Europa ähnliche Systeme.

Von Jannis Brühl, Berlin

Chinas Scoring-Systeme gelten als die eine Technik-Dystopie, die wahr geworden ist. Jedem Chinesen, so glauben viele im Westen, wird schon heute ein Punktwert zugeteilt, der je nach seinem Verhalten sinken oder steigen kann. Ein riesiges Experiment aus Big Data und Überwachung, durchgeführt an mehr als einer Milliarde Menschen.

Experten widersprechen dem Bild, das sich die internationale Öffentlichkeit und internationale Medien von dem Programm machen. Es sei vage und in Teilen vorurteilsbeladen. Das jedenfalls war Konsens in einer Runde von China-Kennern auf der Digitalkonferenz Republica, die diese Woche in Berlin stattfand. In Zusammenhang mit dem System fielen oft die Metaphern "Black Mirror" oder "Orwell", sagte die niederländische Sinologin Manya Koetse. Eine Vorstellung halte sich hartnäckig: "Jeder Chinese bekommt eine Punktzahl, und sie geht runter, wenn er sich zum Beispiel Bier kauft."

Jeremy Daum, Chinaexperte von der Yale Law School und bekannter Blogger, wies darauf hin, dass viele der berüchtigten Sanktionen nicht für sich ständen, sondern zusätzlich zu rechtlichen Strafen verhängt würden: "Wenn du einen Fernseher klaust und erwischt wirst, denkst du nicht: 'Oh, mein Credit-Score wird runtergehen!'. Du denkst: 'Oh, ich gehe ins Gefängnis!'" Dass der Score sinke, sei erst Folge der Haftstrafe. Mögliche Sanktionen könnten dann zum Beispiel darin bestehen, einen Rabatt für öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr zu erhalten. Manche Betroffene dürften jedoch auch keine Flüge mehr buchen. In Zügen wird Schwarzfahrern schon mit dem Sozialkreditsystem gedroht.

Daum sagte, das nationale System sei kein Bewertungsprogramm. "Im entscheidenden Regierungs-Dokument steht nicht ein Wort über ein Punktesystem." Allerdings wird so ein System in Dutzenden Städten lokal getestet. 2020 will sich die Regierung auf ein System festlegen und die Teilnahme zur Pflicht machen.

Die Tech-Unternehmen betreiben eigene Systeme

Der chinesische Staat hat laut Daum auch ohne den "Credit" weitreichende Möglichkeiten, seine Bürger auszuspionieren. Die Algorithmen, die ihm zugrunde lägen, seien auch keineswegs übermächtig und dunkel. "Es ist einfache Addition und Subtraktion." Allerdings, da waren sich die Diskutanten einig, verfolge der Staat die Uiguren in Xinjiang immer brutaler.

Einige der aktuellen Kreditsysteme werden von großen chinesischen Techfirmen betrieben, die die Kreditwürdigkeit von Konsumenten bewertet. Dazu zählt Alibabas Sesame Credit, der am ehesten der deutschen Schufa ähnelt. Die Kreditwürdigkeit wird auf Grundlage der Konten errechnet, die der Nutzer bei Diensten des Alibaba-Konzerns hat, zum Beispiel dem Onlinehändler Taobao. Je höher der Punktestand, desto mehr Vergünstigungen und Angebote kann der Nutzer in Anspruch nehmen. Zum Beispiel muss er dann in einigen Hotels keine Anzahlung mehr leisten.

Es ist das zukünftige nationale System, in welcher Form es auch landesweit kommen wird, das aktuell die größten Ängste schürt. Es soll die Kreditwürdigkeit der Abermillionen Chinesen ohne Bankkonto feststellen, und zwar anhand neuer Daten, die über die klassische Kredithistorie hinausgehen. Wirklich funktionieren würde derzeit aber nur ein Teilbereich, sagt Daum: ein Netz von mehr als drei Dutzend schwarzen Listen diverser Aufsichtsbehörden. Auf denen stehen Bürger und Unternehmen, die nicht als vertrauenswürdig gelten und Einschränkungen unterworfen sind.

Viele Chinesen glauben, so ein System könne den grassierenden Betrug und das Misstrauen in der Gesellschaft eindämmen, die in den vergangenen 40 Jahren vom Umbau zum Kapitalismus erschüttert wurde wie kaum eine zweite. Dabei helfen soll eine weitere Komponente des Systems, die Daum nennt: Eine Propaganda-Offensive, die die Menschen aufruft, ehrlicher zu anderen zu sein: Die Kampagne für mehr Vertrauen und Kreditwürdigkeit habe ein eigenes Lied und sogar ein eigenes Magazin zum Thema hervorgebracht. Viele Chinesen wissen aber, dass sie auch vom Staat keine Rechtssicherheit erwarten können.

Warnung vor "digitalem Orientalismus"

Die Kampagne scheint zu funktionieren: Dass das Netz der Überwachung ausgebaut wird, stört viele Chinesen nicht. Der Professorin für chinesische Politik an der FU Berlin, Genia Kostka, zufolge gibt es unter den Bürgern hohe Zustimmungsraten zur Sozialkredit-Offensive. Bedenken wegen des Datenschutzes äußerten einige Bürger aber durchaus, und viele machten sich Sorgen, dass das System intransparent und unfair zu manchen sein könnte.

Kaiser Kuo war Kommunikationschef des chinesischen Suchmaschine Baidu. Heute ist er Moderator eines Podcasts über China. Für ihn hat sich die Debatte umgekehrt: Undemokratische Staaten galten im Westen jahrzehntelang als uninspiriert und unfähig zur Innovation. Heute herrsche dagegen die Sicht vor: China überhole den Westen technologisch in allen Bereichen. "Jetzt glauben wir, Technologie sei die Dienerin des Autoritarismus." Beides sei unrealistisch. "Wir sollten aufpassen, nicht einem 'digitalen Orientalismus' zu frönen." Ein Vergleich mit Edward Saids Theorie, laut der der Westen sich lange einen Nahen Osten als wildes Land voller lüsterner Krieger und Haremsdamen herbeifantasierte.

China sei nicht in der Black-Mirror-Phase, sondern in der Star-Trek-Phase, sagte Kuo: Im Land herrsche Techno-Optimismus. Moderatorin Melissa Chan erwiderte: "Aber nur, weil die Regierung noch nicht erlaubt hat, dass die Dark-Mirror-Phase eintritt."

"In China kriegt der Nerd das Mädchen"

Das positive Verhältnis zur Technologie zeige sich auch im Aufstieg der Nerds in der Gesellschaft, sagte Kuo. Sie genössen hohen sozialen Status. "Das ist nicht wie in den USA, wo der Football-Spieler mit dem Camaro vorbeirollt, und aus dem offenen Fenster den nächstbesten Nerd beleidigt. In China kriegt der Nerd das Mädchen."

Jeremy Daum sieht es tiefenpsychologisch: Die Menschen im Westen projizierten ihre Ängste vor digitalen Technologien auf China, ähnlich wie beim Klimaschutz. Man verweigere sich dem entschlossenen Kampf gegen die Erwärmung, aber sage sich: "Immerhin sind wir nicht China - schau dir an, wie schlecht die Luft dort ist!"

Ein weiterer Vortrag auf der Republica zeigte, dass auch in Europa staatliche Algorithmen Bürger bewerten und weitreichenden Einfluss auf ihr Leben nehmen können. In Dänemark und den Niederlanden sollen Systeme erkennen, welche Kinder in Gefahr sein könnten, vernachlässigt zu werden. Minuspunkte gibt es für Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen oder verpasste Zahnarzttermine. Das kann massive Auswirkungen auf Familien haben. Auch in Polen erhielten Arbeitslose zeitweise "Scores", um einzustufen, wie "vermittelbar" sie waren. Erst nach Protesten wurde das System zurückgenommen.

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