Terrorismus:Die Kinder des Krieges

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Auch diese Frauen und ihre Kinder haben - wie viele andere ehemalige IS-Anhänger - Zuflucht im Lager al-Haul im Nordosten Syriens gefunden. Die Zustände dort beschreibt das Rote Kreuz als "entsetzlich". (Foto: Bulent Kilic/AFP)
  • Die Bundesregierung sieht völkerrechtliche Verpflichtungen, deutsche Staatsbürger aus syrischen Gefängnissen zurückzunehmen.
  • Sie sei aber auch für die Sicherheit der Heimatbevölkerung verantwortlich. Diese dürfe man nicht durch IS-Rückkehrer einer Gefahr aussetzen.
  • Es gilt als denkbar, nur die Kinder nach Deutschland zu holen. Das ist ohne die Mütter aber kaum möglich.

Von Britta von der Heide und Georg Mascolo, Berlin

Es gibt einen Ort, an dem man ein großes Versäumnis des Westens im Umgang mit dem sogenannten Islamischen Staat besichtigen kann. Es ist das Lager al-Haul im Nordosten Syriens, gleich an der Grenze zum Irak, 76 000 Menschen sitzen dort laut dem Roten Kreuz ein. Unter ihnen ist eine nicht genau bekannte, aber große Zahl von ehemaligen IS-Anhängern, Männern, Frauen und Kindern. Niemand weiß, was aus ihnen werden soll. Denn die Sieger über den IS haben sich keine Gedanken gemacht, was aus den Verlierern werden soll.

Nur eine schmale Straße führt durch die Hügel des Grenzgebiets nach al-Haul, schon aus der Ferne ist der große Wasserturm zu erkennen. Tausende Zelte haben die Vereinten Nationen (UN) und andere Hilfsorganisationen in aller Eile errichtet. Am Rand des Lagers stehen einige befestigte Bauten und Container, Geheimdienstler aus aller Welt gehen hier ein und aus. Auch der BND war schon da, die IS-Angehörigen werden befragt. So wie auch in zahlreichen Gefängnissen in den Kurden-Gebieten Nordsyriens, wo die meisten der ausländischen Kämpfer einsitzen.

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Die Zustände in al-Haul seien "entsetzlich", twitterte gerade das Rote Kreuz. Das gilt nicht nur für die mangelnde medizinische Versorgung, die vor allem für viele schwer erkrankte Kleinkinder lebensbedrohlich ist. Die Appelle der Familien an die deutsche Bundesregierung, sie dort herauszuholen, sind bislang ungehört geblieben. So machen sich nun erste Familien auf den Klageweg. Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR soll mithilfe des Verwaltungsgerichts Berlin erstmals eine Rückkehr nach Deutschland gerichtlich erzwungen werden.

Einen entsprechenden Antrag auf eine einstweilige Anordnung reichte diese Woche der hannoversche Rechtsanwalt Dirk Schoenian für die Großeltern zweier Mädchen ein, die in al-Haul einsitzen. Deren Mutter, eine aus Baden-Württemberg stammende IS-Anhängerin, soll bei den Kämpfen um die letzte IS-Bastion in Baghuz ums Leben gekommen sein. Eines der Kinder ist vier Jahre alt, das andere knapp zwei. Es wurde im IS-Gebiet geboren. Unter Hinweis auf "unmittelbar lebensbedrohende" Umstände in al-Haul will der Anwalt eine konsularische Betreuung und die Heimkehr nach Deutschland erreichen.

In Teilen des Camps sollen nach Berichten inzwischen radikale IS-Anhänger die Kontrolle übernommen haben, sie bedrohen jene, die sich von der radikalen Ideologie abgewandt haben oder dies tun wollen. Todesdrohungen gehören zum Alltag, IS-Anhänger versuchen, die Vollverschleierung wieder zu erzwingen. Die Fanatiker sind auch nach der IS-Niederlage noch da: Noch auf dem Weg in das Lager brachen einzelne aus der Gefangenenkolonne aus und sprengten sich in die Luft.

Seit Monaten hatte der Hannoveraner Anwalt bereits gegenüber dem Auswärtigen Amt in diesem und anderen Fällen interveniert. Dieses erklärte ihm, man könne auf syrischem Boden aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen keine konsularische Hilfe leisten. Gemeinsam mit "Partnern" kläre man aber "mögliche Optionen, um deutschen Staatsangehörigen, auch in humanitären Fällen, eine Rückführung nach Deutschland zu ermöglichen".

Manchmal öffnen sich die Tore in al-Haul und anderswo. Die schwedische Regierung ließ gerade sieben Waisenkinder abholen, auch Albaner und Tschetschenen wurden bereits herausgeholt. Den größten Transport organisierte Ende April die Regierung im Kosovo, mit Unterstützung des US-Militärs flogen sie 110 ihrer Staatsbürger nach Pristina. Aus einer Maschine, die im Cargo-Bereich des Flughafens parkte, stiegen 74 Kinder und 32 Frauen. Vier Männer wurden noch auf dem Rollfeld verhaftet. Die französische Regierung erwog einmal eine ähnliche Operation - aber dann intervenierte Präsident Emmanuel Macron.

So warten Hunderte Franzosen, Belgier und Deutsche bis heute vergebens. Gerade erst bekräftigten europäische Innenminister bei einem Treffen in der G-7-Runde ihre ablehnende Haltung. Einerseits habe man völkerrechtliche Verpflichtungen, seine Staatsbürger zurückzunehmen, aber man sei vor allem für die Sicherheit der Heimatbevölkerung verantwortlich. Keinesfalls dürfe man sie durch IS-Rückkehrer einer Gefahr aussetzen.

Die Kinder zu holen, ginge kaum ohne ihre Mütter

Die harte Linie gilt vor allem für die Männer, obwohl sich viele von ihnen in den Geheimdienst-Befragungen als geläutert geben und eigentlich alle mit den Gräueltaten des IS nichts zu tun gehabt haben wollen. Aber die Sicherheitsbehörden begegnen auch den Frauen mit Misstrauen. Zurück in der islamischen Szene könnten mindestes einige von ihnen für die IS-Ideologie werben.

Die Kinder herauszuholen, gilt dagegen manchen in der Bundesregierung als durchaus denkbar, allein die Zahl der deutschen Minderjährigen wird auf zwei- bis dreihundert geschätzt. Viele wurden im sogenannten Kalifat geboren, sie sind traumatisiert, aber noch nicht ideologisiert. In einzelnen Fällen bemühte sich das Auswärtige Amt inzwischen um eine verbesserte medizinische Versorgung im Camp al-Haul oder in einem Krankenhaus. Aber die Kinder zu holen, ginge kaum ohne ihre Mütter. So dreht sich die Sache im Kreis. In Berlin beschäftigt das Problem inzwischen höchste Stellen - aber die Entscheidung steht aus. Berlin will weder Ja noch Nein sagen. Dabei ist allen klar, dass die Vertagung des Problems auch keine Lösung ist.

Wie lange man das Problem noch ignorieren können wird, hängt nun vor allem an zwei Dingen: Die Kurden und die US-Regierung haben verschiedentlich damit gedroht, dass ihre Geduld nicht unendlich ist. In Berlin wurde schon einmal befürchtet, dass die deutschen Gefangenen eines Tages einfach auf den Luftwaffenstützpunkt nach Ramstein geflogen werden oder vor einer deutschen Botschaft in der Region auftauchen könnten. Bisher erklärt Berlin das Nichtstun auch damit, dass es im Bürgerkriegsland Syrien keine deutsche Vertretung mehr gebe. Auch müsse festgestellt werden, welche im IS-Gebiet geborenen Kinder wirklich die Kinder von deutschen Staatsangehörigen sind. Das gehe nur mit einem DNA-Test.

Der Druck steigt, gerade erst zogen Angehörige der IS-Familien in Berlin zum Protest vor das Auswärtige Amt. "Es könnten auch eure Kinder sein", stand auf Plakaten, die sie in die Luft hielten. Die Klage in Deutschland ähnelt der französischer Großeltern, die ihre beiden Enkel zu sich nach Frankreich holen wollen. Nun muss in der Sache der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheiden.

© SZ vom 15.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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