Krise der EU:Ostsüdeuropa

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Italiens Regierung bastelt an einem Bündnis mit Polen und Ungarn. Denn man teilt dieselben Feindbilder: Brüssel und Berlin. Aber was eint ansonsten drei Länder mit derart unterschiedlicher Geschichte und Wirtschaftslage?

Von Thomas Steinfeld

In der polnischen Nationalhymne findet sich ein seltsamer Ruf in Richtung Italien: "Marsch, marsch, Dąbrowski, / Von der italienischen Erde nach Polen", lauten die ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe. Angerufen wird darin ein General, der gegen Preußen und Russland gekämpft hatte, als Polen zwischen den Jahren 1792 und 1795 unter den Nachbarstaaten aufgeteilt wurde. Dąbrowski ging daraufhin nach Italien, um sich im Auftrag des revolutionären Frankreichs als Anführer der polnischen Legionen für die Cisalpinische Republik zu schlagen. Nach einem Sieg dort werde er, so die Hoffnung der polnischen Patrioten, mit seinen Truppen und mit Unterstützung der Franzosen nach Polen zurückkehren und die eigene Nation wiedererstehen lassen. Aus dem Plan wurde nichts. Napoleon konnte die polnischen Soldaten in Italien besser gebrauchen, Polen wurde erst 1918 wieder ein eigener Nationalstaat.

Polen ist ein katholisches Land, genauso wie Italien. In der Basilika vom Heiligen Haus in Loreto begegnet man polnischen Pilgern in großer Zahl, und Papst Johannes Paul II. war vor allem im Süden Italiens beliebt, seiner mystischen Auffassung des Glaubens und seiner Unterstützung für Padre Pio wegen. Es gibt eine Geschichte polnischer Militäreinheiten, die für Italien (in unterschiedlichen nationalen Zuständen) kämpften, genauso, wie es eine "Legion Garibaldi" gab, bestehend aus vermutlich nicht mehr als zwanzig Mann, die im Januaraufstand 1863 auf Seiten der polnischen Adligen gegen Russland revoltierte. Und es gab, nicht zu vergessen, die Firma "Polski Fiat", die von 1932 bis 1992 Nachbauten italienischer Kleinwagen herstellte, bis das Turiner Unternehmen die Fabrik in Warschau in eigener Regie übernahm.

Nichts jedoch gab es, historisch betrachtet, das in seiner Bedeutung heranreichen würde an die politische Allianz, die Italien seit einigen Monaten mit Polen schließen will, gegen Deutschland, Frankreich und die Dominanz dieser beiden Länder in der EU, mit Ungarn als weiterem Verbündeten.

Einig indessen sind diese drei Staaten nur insofern, als es gegen die großen europäischen Mächte gehen soll. Ansonsten gehen die Interessen weit auseinander: Italien verfügt, nach Deutschland, Großbritannien (bis auf weiteres) und Frankreich, noch immer über die viertgrößte Wirtschaftsmacht in Europa, mit einem Bruttoinlandsprodukt (1,75 Billionen Euro), das mehr als dreimal so groß ist wie das BIP Polens und weit mehr als zehnmal so groß wie das BIP Ungarns. Aber die schiere Größe und ein beachtlicher Überschuss im Außenhandel hilft nichts angesichts einer immensen Staatsschuld, die zudem immer weiter wächst. Das geschieht, weil Italiens Regierung das Sparen verweigert. Es geschieht aber auch, weil die Konkurrenz der Staaten innerhalb der EU nicht nur Gewinner hervorbringt, sondern auch Verlierer - Verlierer zudem, die immer tiefer sinken, weil sie eine Konkurrenzkonstruktion, in der gleiche Bedingungen für alle gelten, nicht verlassen können. Auf diese Weise stellt sich die Europäische Union ihren schlimmsten Querulanten selber her, einen Staat, der sich mittlerweile mit Macht gegen die Sparauflagen des europäischen Haushalts wehrt und darüber nicht nur den eigenen Kredit, sondern auch die gemeinsame Währung gefährdet.

Nur in Bezug auf die Eigenstaatlichkeit hat deshalb Italiens Kampf gegen "Brüssel" und die Europäische Zentralbank etwas mit den Konflikten zu tun, die Polen und Ungarn gegen die mächtigen Staaten der Union führen. Denn diesen ist, seit sie sich aus dem sowjetischen Imperium lösen konnten, die Europäische Union zuallererst ein Mittel zur Gewinnung nationaler Größe gewesen. Und während die Produktivität des verarbeitenden Gewerbes in Italien, den Berechnungen der Eurostat zufolge, seit dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 um fast zwanzig Prozent sank, was eine massive Deindustrialisierung des Landes zur Folge hat, ist die Industrieproduktion Polens wie Ungarns in all diesen Jahren stetig gewachsen. Sie liegt in beiden Ländern mittlerweile auf deutschem Niveau (bei gut 25 Prozent). Warum das so ist, lässt sich leicht erkennen, wenn man von Triest aus in Richtung Budapest fährt: Kaum ist die ungarische Grenze überquert, tragen viele Werkhallen italienische Namen. Dort wird, mit Löhnen, die oft nur die Hälfte, manchmal sogar nur ein Drittel der italienischen Löhne betragen (Nebenkosten eingerechnet), produziert, was nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien nicht mehr hergestellt wird. Die Zeitung Il sole 24 ore meldete vor Kurzem, die niedrigen Steuern veranlassten gegenwärtig ein italienisches Unternehmen pro Tag, sich in Ungarn niederzulassen.

Es gehört zu den vielen Widersprüchen, die die EU hervorbringt, dass sich die Staaten des Ostens, allen voran Polen und Ungarn, gegen ihren dauerhaften Status als Billiglohnländer wehren - ein Status, dem sie ihren ökonomischen Aufstieg verdanken und der jetzt doch ihren weiteren nationalen Ambitionen entgegensteht. Dass italienische Unternehmen sich genau aus diesem Grund in Ungarn ansiedeln, wird in der Opposition gegen die vermeintlichen neuen Kolonialherren übersehen: Zu sehr ist der Widerstand auf "Brüssel" im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen fixiert, während Italien, in der Vorstellung, der Gegner des Gegners ein Freund müsse sein, in seinem Recht auf Eigenstaatlichkeit gleichermaßen bedroht erscheint (auch wenn es sich zu diesem Zweck selbst provinzialisieren muss). Überhaupt eint die Dämonisierung der hegemonialen Mächte das Disparateste: die Flüchtlinge an den Grenzen, die Flucht der eigenen Bevölkerung in die wohlhabenderen Länder der Union, der Schutz der traditionellen Familie und das Bekenntnis zu einheimischen Lebensmitteln.

In diesem Frühjahr erschien in Italien eine Streitschrift mit dem Titel "Italien ist nicht mehr italienisch" ("L'Italia non è più italiana", Mailand 2019) des Journalisten Mario Giordano, der in Silvio Berlusconis Konzern Mediaset für die Sendeformate zuständig ist. Das Buch ist ein Klagelied auf einen Ausverkauf: Die Villen der Toskana befinden sich in den Händen der Amerikaner, die großen Modefirmen gehören Franzosen, berühmte Weingüter wurden an Investoren aus aller Welt verkauft, und die Geschäfte der Camorra werden mittlerweile von Nigerianern kontrolliert.

Die Klage wäre ein Schulterzucken wert: Solange der Wein nicht schlechter schmeckt als vorher, die Mode ansehnlich und tragbar bleibt und die nigerianische Mafia nicht verbrecherischer ist als die neapolitanische, wäre der Wechsel der Besitzverhältnisse die Aufregung nicht wert. Die Villen hätte man sich sowieso nicht leisten können. Aber es geht bei Mario Giordanis Versuch einer Skandalisierung nicht um Rationales. Es geht um einen nationalen Materialismus und um eine nationale Schmach. Es geht um das Gefühl, als Italiener degradiert zu werden. Das ist etwas anderes als das Begehren der Polen oder Ungarn, in der wahren Größe ihrer Nation überhaupt erst anerkannt zu werden. Aber in allen Fällen geht es um nicht eingelöste und keineswegs nur ideelle Ansprüche der Ehre.

Die EU wurde geschaffen, um auf diesem Kontinent eine Macht entstehen lassen, die sich mit den USA hätte messen können sollen. Ihr Widerspruch besteht darin, dass die gegenwärtig 28 Nationen, die an dieser neuen Macht beteiligt sein sollten, zugleich Konkurrenten sind. Ihr Dilemma ist nun, dass sich die Vereinigten Staaten aus dem Freundschaftsbündnis zurückziehen, das über mehr als ein halbes Jahrhundert bestand - während das Projekt Europa von einer Vollendung noch weit entfernt ist. Stattdessen spalten die Vereinigten Staaten: indem sie den Italienern Unterstützung im Umgang mit ihrem Defizit versprechen, indem sie in Polen Militärbasen einrichten, indem sie Viktor Orbán in seiner Politik der nationalen Abgrenzung bestätigen. Die politische Achse (tatsächlich ein eher krummes Ding), die es nun zwischen Italien, Ungarn und Polen geben soll, ist insofern nur eine Erweiterung oder eine Parallele zur "Visegrád-Gruppe", als die sich Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei definieren. Beide Bündnisse verfolgen den Zweck, Europa aufs Neue (und zum ersten Mal richtig) in den Dienst der eigenen nationalen Interessen zu stellen.

Völlig aussichtslos ist dieses Begehren nicht, auch wenn es auf eine weitere Schwächung der Gemeinschaft hinauslaufen muss. Angesichts der bestehenden Widersprüche können sich die großen europäischen Staaten ein weiteres Auseinander innerhalb der EU nicht leisten. Die Macht der Union vermindert sich durch den (immer noch wahrscheinlichen) Ausstieg Großbritanniens schon genug. Umgekehrt kann keine der aufständischen Nationen, nicht nur angesichts vielfacher Abhängigkeiten von der Gemeinschaft, sondern vor allem im Hinblick auf die Grundlagen des nationalen Reichtums, auf die Mitgliedschaft in der Union verzichten. So erhält sich die Gemeinschaft nur im Streit, und ein jeder ist auf einen anderen angewiesen, dessen schiere Gegenwart er als Zumutung empfindet. Das gilt zuletzt auch für die Internationale der Nationalisten: Als die italienische "Lega" am vergangenen Samstag auf dem Vorplatz des Mailänder Doms eine Großkundgebung zusammen mit ihren Verbündeten aus anderen europäischen Ländern veranstaltete, wurde nur eine der italienischen Parolen ins Englische übersetzt: "Il buonsenso Europa" - "Towards a Common Sense". Wie hätte es auch ausgesehen, wenn man neben dem Banner "Prima l'Italia" ein "Deutschland zuerst" und ein "France première" und ein "Suomen Kansa Ensin" hätte wehen lassen?

Übrigens tritt nicht nur Italien in der polnischen Nationalhymne auf, sondern auch Polen in der italienischen Nationalhymne. In der letzten Strophe wird nämlich dem "österreichischen Adler" vorgeworfen, zusammen mit "dem Kosaken" das Blut der Italiener wie der Polen getrunken zu haben. An die Stelle Wiens ist heute Brüssel oder Berlin getreten, der Status als Opfer aber hat sich erhalten.

© SZ vom 22.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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