Leichtathletik:Gegen alle Widerstände

Lesezeit: 3 min

Beispiel für sportliche Höchstleistungen und gesellschaftlichen Mut: Dutee Chand, Rekord-Sprinterin in Indien. (Foto: Jewel Samad/AFP)
  • Die Sprinterin Dutee Chand macht als erste indische Profisportlerin ihre Beziehung zu einer Frau öffentlich.
  • Homosexualität ist in Indien nicht mehr strafbar, wird aber in weiten Teilen der Gesellschaft abgelehnt.
  • Chands Mutter sei "schockiert", ihre Schwester drohte, sie ins Gefängnis zu bringen.

Von Johannes Knuth, München

Die Wissenschaftlerin und Aktivistin Payoshni Mitra hat einmal erzählt, wie es war, als ihre Hoffnung fast zusammengeschmolzen war wie der letzte Schnee im Frühling. Mitra hockte in ihrem Büro, ratlos angesichts dieses verworrenen Falls, in dem sie eine Leichtathletin namens Dutee Chand vertrat: "Ich hatte schlaflose Nächte, und dann schaute ich rüber zu Dutee, die seelenruhig Videospiele spielte." Aber sie habe bald begriffen, dass Chand so den Stress fernhielt, der sie seit Jahren umtoste. "Sie ist extrem stark", sagte Mitra, "sie hat immer gesagt, wir seien schon so weit gekommen, jetzt werde alles gut." Und so sei es dann ja auch gekommen.

Die Biografie von Dutee Chand, 23, aus Indien hat schon immer von Fragen gehandelt, die weit über die Tartanbahn hinausreichen, und die Sprinterin ist vor all den Debatten nie davongerannt. Vordergründig erzählt ihre Geschichte von einer Frau, die in armen Verhältnissen aufwuchs und bei den Asienspielen vor einem Jahr zweimal Silber gewann, über 100 und 200 Meter. Bereits lange zuvor war herausgekommen, dass Chand eine ähnliche Veranlagung hat wie die Südafrikanerin Caster Semenya: Ihr Körper produziert, grob gesagt, mehr Testosteron als bei Frauen üblich. Auch Chand war also eine Zeit lang von einem Paragrafen des Weltverbands IAAF betroffen, wonach diese Athletinnen ihren Testosteronspiegel unter einen Grenzwert drücken müssen. Erst als sie mit der Menschenrechtlerin Mitra vor den Sportgerichtshof Cas zog, hebelte der die Regelung aus. Mittlerweile darf Chand als diejenige laufen, die sie ist, im Gegensatz zu Semenya übrigens, aber dazu später mehr.

MeinungSemenya-Urteil des Cas
:Der Sport braucht eine einheitliche, harte Linie

Der Sportgerichtshof kommt im Fall Semenya zu einem pragmatischen, nachvollziehbaren und ausgewogenen Urteil. Trotzdem wird man in dieser heiklen Sache nie allen gerecht.

Kommentar von Joachim Mölter

Chand stemmt sich mittlerweile gegen andere Widerstände, und diesmal ist es nicht ein Sportverband, der ihr auferlegt, wie sie zu sein hat, sondern ihre Gesellschaft. Sie liebe eine Partnerin, "meine Seelenverwandte", erzählte sie neulich dem Indian Express. Es war das erste Mal, dass ein Athlet in Indien eine gleichgeschlechtliche Beziehung öffentlich machte. "Ich glaube, dass jeder Mensch die Freiheit haben sollte, mit dem Partner zusammen zu sein, den er liebt", sagte Chand. Und jetzt wolle sie sich bitteschön auf die Saison konzentrieren. Auch wenn sie wisse, dass ihre Beziehung für viele "eine Herausforderung" sei. Eine Herausforderung?

In Indien galt bis vor kurzem Paragraf 377, Beziehungen unter Gleichgeschlechtlichen seien "gegen die Ordnung der Natur". Wer dagegen verstieß, dem drohte Gefängnis. Der Oberste Gerichtshof strich den 158 Jahre alten Passus, ein Relikt aus der Kolonialzeit, erst im vergangenen Herbst aus den Gesetzbüchern. Aber aus den Köpfen verschwand er damit natürlich noch lange nicht. Indiens Gesellschaft ist zutiefst konservativ, wer mit wem aus welcher Kaste zusammen sein darf oder auch nicht, ist eine Frage von großer Bedeutung. Als Chands Mutter von der Partnerschaft ihrer Tochter erfuhr, reagierte sie "schockiert". Ihre ältere Schwester habe sogar gedroht, so berichtete Chand, dass sie sie ins Gefängnis bringen werde. "Mit der Zeit", entgegnete Chand, "wird sie mich verstehen und unterstützen."

Chand wuchs im Bundesstaat Odisha auf, ihre Eltern waren Weber, sie verdienten rund fünf Euro die Woche. Als Chand als Sprinterin erste Erfolge hatte, mit 18 Jahren, verstand sie zunächst nicht, warum Ärzte sie untersuchten oder der Verband sie für ein Jahr sperrte. Sie begriff erst später, dass sie in der Gesellschaft als Frau anerkannt war, von Natur aus aber irgendwo zwischen den Geschlechterkategorien rangiert, nach denen der Sport trennt. Was sie nicht verstand: Warum der Sport ihr einen Grenzwert auferlegte für etwas, das die Natur ihr mitgegeben hatte. Sie wehrte sich, zusammen mit der Menschenrechtlerin Mitra. Und tatsächlich: Vor vier Jahren verfügte der Cas, dass die IAAF besser beweisen müsse, dass Athletinnen wie Chand oder Semenya gegenüber anderen Frauen bevorteilt seien. Das gelang der IAAF - teils überzeugend, teils weniger; der neue Testosteron-Grenzwert gilt nur für 400 Meter bis zur Meile. Semenyas Spezialstrecke fällt darunter, die von Chand nicht; es sei denn, die IAAF findet für den Sprint neue Belege. Kürzlich verpasste Chand ihren Landesrekord über 100 Meter (11,24) nur knapp, in 11,28 Sekunden.

Aber sie hat noch ein paar Kämpfe vor sich, abseits der Bahn. Die 23-Jährige sei "eine Ikone für den gesamten indischen Sport, der noch immer von einer toxischen Macho-Kultur geprägt ist", kommentierte der Express nach dem Coming-out. Manchmal reichen zwei Seelenverwandte, um manche Haltungen von heute furchtbar alt aussehen zu lassen.

© SZ vom 22.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ-Podcast "Und nun zum Sport"
:Caster Semenya: Wie anders dürfen Sportler sein?

Seit Jahren wird über die Leichtathletin diskutiert, weil ihre Leistungen darauf beruhen, dass sie hyperandrogen ist. Der Umgang mit dem Thema zeigt eine Überforderung - und wirft viele Fragen auf.

Von Anna Dreher, Johannes Knuth und Joachim Mölter

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: