Bildband:Metamorphosen des Lebens

Die Kombination ist das Geheimnis: Die Fotografin Liza Ryan und ihr Buch "The Unreal Real".

Von Michael Kohl

Auch Autos sind sensibel. Wie eine offene Wunde klafft das kaputte Frontlicht eines Wagens auf. Splitter und Metallbeulen bleiben als unheilbare Verletzungen übrig. Der Schutz der Technik ist äußerst fragil. Doch selbst in der Zerstörung findet die amerikanische Fotografin Liza Ryan etwas Poetisches. Der Bildband "The Unreal Real" ist mittlerweile ihre fünfte Publikation. Darin sind Fotoserien aus den vergangenen zwei Jahrzehnten zusammengestellt.

Der Wagen auf dem Foto neben dem des verwundeten Autos ist zwar unbeschädigt, aber mit Blüten bedeckt. Die Äste einer Baumkrone spiegeln sich in der dunkelblauen Lackfarbe der Motorhaube. Die Hülle erinnert an einen Sarg, kurz bevor er mit Erde begraben wird. Beide Autos sind auf unterschiedliche Weise von den Spuren der Zeit gezeichnet. Gerade in der Kombination zweier verschiedener Fotografien zeigt Ryan, wie unwirklich das Wirkliche sein kann. In der Serie "Displacement" stellt sie leere Interieurs verstorbener Familienmitglieder neben Nahaufnahmen von Hautpigmenten. Tapeten und Poren. Fenster und Härchen. Vorhänge und Fältchen. Erst in der Verbindung wird deutlich, wie vergänglich das Fleisch und wie beständig die Gegenstände sind.

Liza Ryan arbeitet assoziativ. Manchmal nutzt sie Bilder, manchmal Gedichte als Ausgangspunkt. Die gothic tradition ihrer Heimat Virginia hat Ryan bewahrt. Heute lebt sie zwar im sonnigen Los Angeles, lichtet aber trotzdem Hundezähne, Wölfe, Eulen und Adler ab. Die bedrohlichen Tiere verortet sie in dunklen, unscharfen und unwirtlichen Landschaften. Nicht jede Verbindung erschließt sich. Manches bleibt rätselhaft.

Eine Frau im Sommerkleid steht im Garten und spuckt Feuer. Die Flamme schießt aus ihrem Mund. Der Rasen und die Bäume werden davon erleuchtet. Die eruptive Gewalt des Feuers steht im Gegensatz zur Ruhe der grünen Szenerie. Eines nachts träumte Liza Ryan, wie die amerikanische Autorin Emily Dickinson Feuer spie. Daraufhin engagierte sie eine Artistin für das Fotoshooting, ohne das Bild hinterher in Photoshop zu bearbeiten. Ryan sieht auch das unbeachtete Detail und entdeckt darin eine ungeheure Kraft.

Es ist eine Kraft, die eine ständige Verwandlung vorantreibt. Ryan studierte Ovid, Dante, Kafka. In der Serie "Spill" verbindet sie Tiere und Menschen, Wasser und Erde, Bewegung und Stillstand. Eine auslaufende Tintenfarbe mäandert über die Fotodrucke. Die unstete Linie hat sie nicht mehr losgelassen. Für die titelgebende Fotoserie reiste Ryan an die Antarktis. Graue Wolken und graues Meer erstrecken sich über Seiten hinweg. Nur die Formationen aus Eisbergen strukturieren den Horizont. Manche Gletscher hat Ryan mit Tinte, Gouache, Wasserfarbe, Kohle oder Bleistift nachgezeichnet. Sie selbst sagt, dadurch falle es ihr leichter, sich an die Naturgewalt zu erinnern. Und beim Betrachten der in dieser Mischtechniken gefertigten Bilder wird aus dem Unwirklichen wieder das Wirkliche.

Liza Ryan: The Unreal Real. Herausgegeben von Manfred Heiting. Mit 110 Abbildungen. Steidl Verlag. Göttingen 2018. 176 Seiten, 38 Euro.

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