Roadnovel:Die Frau hinten lacht

Leipziger Buchmesse 2017 Leipzig Germany Doris Knecht

Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Im Jahr 2011 debütierte sie mit dem Roman "Gruber geht".

(Foto: imago/Manfred Segerer)

Auf der Suche nach ihrer teilzeitpsychotischen Tochter reisen zwei bis Phnom Penh: Der Roman "weg" von Doris Knecht hat viel Tempo und zu wenig Verrücktheit.

Von Hubert Winkels

Es gibt eine Art von Auffassungsgabe und Beredtheit, die dem literarischen Erzählen nicht zuträglich ist. Sie ist vor allem schnell. Schnell hat sie ihren Gegenstand erfasst, ein Muster identifiziert, daraus eine Erklärung abgeleitet. Schnell wird aus der Einsicht dann wieder neuer Stoff, der sich beispielsweise als Roman geriert und dem Leser die Aufgabe stellt, diesen Prozess rückwärts abzuwickeln, also ähnlich rasch das zugrunde liegende Erkenntnisschema zu fassen. Schnelles Lesen wird so provoziert, unterstützt durch Kaskaden kurzer Sätze, innere Atemlosigkeit und inhaltlich besonders gern durch Bewegung im Raum, Fahrgerät zu Lande, zu Wasser und in der Luft, durch reißende Ströme, laute Straßen und ziehende Sehnsucht.

Viel Film ist darin, ein Hauch von Komödie, auch wenn's wehtut, und vor allem ein klares Verhältnis von Problem und Lösung. Ein Musterbeispiel für diese Art der schnellen unterhaltsamen Literatur ist der Roman "weg" von Doris Knecht. Insofern ist der Titel gut gewählt. Auch kommen sehr viele "weg"-Wörter vor, also Verben wie wegnicken, wegtragen, weglieben, weglaufen, wegfahren, und man spürt, wie all das zum Weglesen animiert, doch Tempo ist der Lektüre niemals förderlich, und wegrezensieren, wegkritisieren gar, die falsche Anknüpfung. Sonst sieht man nichts. Also langsam.

Das Kind ist entkommen, erst ins verruchte Berlin, dann ins ferne Südostasien

Zu der veloziferischen Versuchung der schnellen und klugen Doris Knecht gehört es zwingend, ihre Helden rasch zu sozialtypischen oder zu psychopathologisch klaren Fällen zu stilisieren und sie dann mit den entsprechenden Normen, Intentionen, Attributen zu versehen. Das ist durchaus unterhaltsam, weil man ohne Grübeln vieles von sich selbst und den lieben Nachbarn in den Medien wiedererkennt. Jan und Jeck eben, den Provinz-Don Juan und den Selbstoptimierer, den freundlich lächelnden Asiaten und den vulgären Hundebesitzer von nebenan, meist uralte kulturelle Muster in Verkleidung: zum Beispiel den virilen Förster und die unstete, in den Wald geflüchtete Schöne in "Der Wald", Doris Knechts bisher bestem Roman.

In "weg" nun sind es vor allem die neurotische, permanent überforderte habituelle Kleinbürgerin Heidi und ihre flüchtende teilzeitpsychotische Tochter Charlotte. Erstere ist immer da, ihrem inneren Heulen folgen wir weitgehend beim Lesen; und die junge Wilde, der Garant des permanenten Entzugs von Sinn und Sein, ist immer weg. Allein um die provinzielle Bodenständigkeit Heidis zu entwickeln, türmt der Roman Evidenz auf Evidenz. Heidi lebt in einem piefigen hessischen Kaff namens Rebenborn in einem Reihenhaus, aus dem neben der Tochter auch noch ihr Mann Martin weggelaufen, nämlich bei immer ausgedehnteren und professionalisierten Langstreckenläufen einfach verschwunden ist. Heidi, jetzt Anfang vierzig, ist einst im Leben gegen große innere Widerstände in ein Sündenbabel, eine verrufene Metropole gezogen, nach Wien nämlich, wo sie dann bei einem Mopedausflug in den Wienerwald mit ihrem jungen Liebhaber Georg ein Kind gezeugt hat, Charlotte. Danach ist Heidi nicht mehr rausgekommen aus ihrem provinziellen Loch, dafür ist ihr Kind weggekommen, erst ins verruchte Berlin, dann ins ferne Südostasien.

Der Roman fährt ihr nach und wird so zu einer Roadnovel. Sein heraldisches Verkehrsmittel ist das Moped, von einer kultigen altösterreichischen Puch DS mit weißer Doppelsitzbank über Millionen krachender Zweitakter in Vietnam bis zu den phonetisch eindeutig bezeichneten Tuk Tuks, den Fahrradrikschas von Phnom Penh. Kleine Moped-Litaneien rahmen und unterbrechen den Roman. Am Ende - darf man es verraten? - tuckern zwei zwischen blauem Meer und grünen Palmen, ach, ins Happy End, herrlich.

Doch vor das Glück hat der Romangott die Selbstüberwindung gesetzt. Heidi ist das Hinter-Lotte-Herfahren fast unmöglich, da sie nicht weiß, wie Fliegen geht, und Angst hat. Als sie sich dann in einem Akt sorgegetriebener Ertüchtigung nach Vietnam und Kambodscha aufmacht, kommt sie dort nicht allein über die Straßen von Ho-Chi-Minh-Stadt: die asiatischen Menschenmassen, die Atemschutzmasken, der uferlose Verkehr, der Abgasgestank, das Geräuschgebirge, die Garküchen, die Wellen von Zwei-, Drei- und Vierrädern - Heidi bricht zusammen und muss an die Hand genommen werden, von ihrem nachgereisten Ex-Mann Georg, einem eher coolen Gastwirt, dem Vater von Lotte.

Das Rätsel der Tochter hält die Figuren in Bewegung und die Leser auf Trab

Nun reisen die beiden zwei Drittel des Romans lang durch Vietnam und Kambodscha einer Schimäre namens Lotte hinterher, deren Bild unterwegs unentwegt angereichert wird mit Geschichte und Schicksal, manchmal aus Georgs Perspektive, meist aus Heidis, selten aus der von Freunden der beiden, und manchmal füllt auch ein auktorialer Erzähler etwa entstehende Lücken, sodass wechselnde Spotlights den Blick des Leser lenken.

Auf diese Weise wird eine oszillierende Leerstelle erzeugt, die nicht nur die Figuren in Bewegung hält, sondern als soziales und humanes Rätsel auch die Leser auf Touren halten soll. Wer oder was ist (Char-)Lotte, deren Vorsilbe ihr mal weggenommen wird, sich dann auch mal wieder zu Charlie erweitert. Die von psychischen Krankheitsschüben bedrohte Charlotte ist der bewegliche Kunsthase, hinter dem alle Jäger im Roman und dessen Leser her sind. Sie ist der bewegte Beweger, sie besteht vor allem aus Spuren für andere und bleibt entsprechend lange klandestin und ihre Krankheit eigentümlich unscharf: eine marihuanainduzierte Psychose, die sie in unregelmäßigen Abständen paranoid durchschüttelt.

Die Ärzte sprechen von einem zugrunde liegenden genetischen Defekt, von einem biochemischen Schicksal sozusagen. Mutter Heidi weiß sich dadurch von Schuld entlastet, kann aber nicht davon ablassen, sich selbst und ihre Geschichte ursächlich zu deuten. Vor allem der Tod ihres Zwillingsbruders Manfred hatte eine Leerstelle in ihrem Leben hinterlassen, die Charlotte einerseits füllen musste, andererseits bekam sie aber auch den Verlustschmerz der Mutter übertragen. Dass nun - weitere ätiologische Alternative - der angstgetriebene, zwangsneurotische Sekuritätswahn Heidis die freiheitsliebende Jugendliche aus dem Haus getrieben hat, was die Romanerzählung uns implizit, aber dennoch aufdringlich nahelegt, das kann Heidi selbst nicht denken.

Aber wie dem auch sei, der den Roman antreibende flüchtende Hase als Packesel für sämtliche Devianztheorien ist näher am McGuffin-Pol als am Sinn-Pol der Geschichte. In diese große Erzählung einhängt sind zur Kurzweil etliche andere kleine, meist schnell, aber sinnlich konkret hingetuschte. Doris Knecht, einst erfolgreiche Journalistin in Österreich, immer noch eine viel gelesene Kolumnistin, kann erzählen. Schnell und scharf umrissen und ganz zeitgenössisch exemplarisch. Was dieser Jagd nach einer leicht Verrückten aber fehlt, ist ein Gran Verrücktheit im Erzählen, eine Reibung, eine Irritation, eine Fremdheit, die sich dem leichtgängigen Evozieren und beredten Erklären entzieht, und damit auch dem Leser. Der hat am Ende den ganzen Roman im Sack, gut wegverstanden alles, rundum zufrieden. Und ebenso endet der denn auch, happy, mit einem lustigen Pfeifen, als wenn nichts gewesen wäre: "Die Frau vorne gibt ein bisschen Gas, die Frau hinten lacht. Das Moped fährt schneller. Die Frau vorne lacht jetzt auch." Yippie!

Doris Knecht: weg. Roman. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2019. 303 Seiten, 22 Euro.

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