Japanische Literatur:Was es nur selten gibt

Vor gut tausend Jahren entstand in Kyoto das "Kopfkissenbuch" der Hofdame Sei Shōnagon. Es ist eine wilde Mischung aus Gedichten, kleinen Essays, Anekoten. Vor allem aber enthält das Meisterwerk sehr viele Listen.

Von Lea Schneider

Listen dürften eines der ältesten literarischen Stilmittel sein. Von der Bibel und Homer über Jules Verne und Jorge Luis Borges bis zur neuesten "100 Dinge, die ..."-Sammlung auf Buzzfeed - Kataloge und Aufzählungen finden sich zu allen Zeiten und in allen Genres. Sie sind säkulare, nicht weit entfernte Verwandte von Gebeten und Zaubersprüchen, die versuchen, Sprache als eine Art magisches Werkzeug zum Eingriff in die Welt zu gebrauchen.

Jede Liste nimmt, wie die Japanologin Jacqueline Pigeot schreibt, eine "Reorganisation des Realen" vor, indem sie ein eigenes Ordnungssystem setzt. Wer eine Liste anlegt, spielt ein bisschen Gott, oder behauptet zumindest, dass die eigenen Kategorien eine überpersönliche Bedeutung hätten: Ich fasse zweiundzwanzig Dinge unter einer Überschrift zusammen, und sofort entwickeln sie Gemeinsamkeiten. In der Literaturgeschichte der Liste hat niemand diese Anmaßung mit verspielterer Willkür in Anspruch genommen als die Dichterin Sei Shōnagon.

Vor gut tausend Jahren wurde diese Mischung aus Essays, Listen, Gedichten verfasst

Das "Kopfkissenbuch", das die japanische Hofdame vor gut tausend Jahren in Kyoto verfasste, enthält eine wilde Mischung aus Anekdoten vom Leben am Kaiserhof, Miniatur-Essays, Gedichten, Notizen, Abschweifungen und den erwähnten Listen, die ein gutes Drittel des Buchs ausmachen und sich durch eine wunderbar dreiste Vermischung von Subjektivem und Abstraktem auszeichnen. Shōnagons kurze, assoziative Texte erinnern nicht nur in ihrer Form an gegenwärtige Formate wie Tweets oder Blogposts; dank Michael Steins zeitgenössischer Übersetzung sind sie auch auf Deutsch in einer Sprache lesbar, die von klebrigen Kolonialismen und exotistischen Japanklischees befreit ist. Steins Version des Kopfkissenbuchs war bisher nur in einer teuren bibliophilen Ausgabe erhältlich, und man kann es dem Manesse-Verlag kaum genug danken, dass er dieses Meisterwerk nun in einer erschwinglicheren Auflage zugänglich gemacht hat.

Um ein solches handelt es sich vor allem deshalb, weil Sei Shōnagons Listen fast immer einen Überraschungseffekt enthalten, der das Denken ins Stolpern oder zu einem verunsicherten Lachen bringt. Das geschieht einerseits, indem sie unter einer gewöhnlich erscheinenden Kategorie unerwartete Dinge versammelt - unter der Überschrift "Nachahmungen" führt sie zum Beispiel lediglich zwei Punkte auf, "Gähnen" und "Kleinkinder". Andererseits zeigt sich ihre selbstbewusste Welteinteilung oft schon in den Listentiteln. So beschäftigt sie sich zwar mit den abstrakten Kategorien "Großartiges", "Peinliches" und "Gegensätzliches", aber genauso auch mit "Worüber ich mich totärgern könnte", "Was es leider nur selten gibt", "Was sich anders als sonst anhört", "Was mir Zuversicht gibt", "Wobei man nicht unachtsam sein darf", "Was besser kurz sein sollte", "Was einst großartig war, heute aber nutzlos ist", und nicht zuletzt mit "Dingen, die nicht sonderlich auffallen, beim Schreiben aber erheblichen Aufwand erfordern".

Nicht selten explodieren Sei Shōnagons Listen, verlassen den Modus der Aufzählung und wandern in eine andere Richtung, zu einer persönlichen Reflexion oder einer Erinnerung. Immer aber führen sie vor, wie wir die Welt mittels Sprache in Kategorien einteilen - und auch, wie willkürlich und kontingent diese Einteilungen sind. Ihre Kataloge sind, mit einem Begriff des Literaturwissenschaftlers Philippe Hamon, "lexikalische Wucherungen", die die Definitionsmacht des Lexikons außer Kraft setzen, indem sie seine Regeln spielerisch so lange übererfüllen, bis sie relativ werden: Eine tausend Jahre alte Aufforderung zu eigenständigem Denken und lustvollem Umgang mit der Sprache.

Sei Shōnagon: Kopfkissenbuch. Aus dem Japanischen von Michael Stein. Manesse-Verlag, München 2019. 736 Seiten, 24 Euro.

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