Europawahl:Wunsch nach Klarheit und Führungsstärke

Europawahl 2019 - Wahlplakate in Frankfurt am Main

Europawahl-Plakate in Frankfurt am Main.

(Foto: dpa)

Die Wähler eint das trügerische Bedürfnis nach Einfachheit und Verständlichkeit. Viele setzen auf neue Parteien - und darin liegt eine große Chance.

Kommentar von Stefan Kornelius

In Europa ist der Kampf um die Deutungshoheit eines facettenreichen Wahlergebnisses entbrannt. Auf zwei Botschaften sollte man sich schnell einigen können, zur Abwechslung handelt es sich sogar um positive Nachrichten. Geradezu fantastisch ist die gestiegene Wahlbeteiligung überall in Europa. Hinter dieser Mobilisierung steckt die Erkenntnis der Wähler, dass es sich um eine wichtige Wahl handelt, dass ihre Stimme zählt. Europa ist ein bestimmender Faktor im Leben geworden, die Anfeindungen von innen und außen, der gewaltige Druck durch die USA und China, aber auch die Sorge um die Demokratie hat Überlebensinstinkte berührt.

Nie zuvor stand bei einer Europawahl das nationale Interesse derart im Einklang mit dem europäischen Interesse. Europapolitik ist Lokalpolitik geworden - mehr kann sich das Parlament kaum wünschen. Die Dänen wählten mit einer Rekordbeteiligung von 63 Prozent, in Polen und Ungarn hat sich die Beteiligung verdoppelt - der Brexit und die Populisten mobilisieren die Wähler. Der starke Anstieg der Wahlbeteiligung hat auch zur Folge, dass die Rechtspopulisten alles andere als erfolgreich waren. Dies ist die zweite Botschaft: Nationalisten haben keine Mehrheit in Europa, sie sind nicht einmal beeindruckend stark geworden. Die aufgeplusterte Salvini-Allianz oder die Fidesz von Viktor Orbán glaubten vor der Wahl, dass sie die Gesetze der Schwerkraft aushebeln könnten. Das konnten sie nicht. Orbán meinte, die Europäische Volkspartei mit seiner Obstruktion erpressen zu können. Jetzt steht er alleine da auf der Suche nach geeigneten Partnern. Für die deutsche AfD passt ein Zuwachs von 3,9 Prozentpunkten nicht zum breitschultrigen Anspruch. Die zersplitterten Rechtspopulisten werden keine homogene, schlagkräftige Fraktion im Parlament bilden. Sie sind möglicherweise vereint in ihrer Zerstörungswut, für mehr reicht die Kraft aber nicht.

Zwei positive Botschaften also, es bleibt aber ein großes Rätsel: Die Verluste der traditionell starken Parteiblöcke und die Gewinne moderater und frischer Kräfte wie der Grünen und der Liberalen werfen die Frage auf nach dem Leitmotiv der europäischen Wähler. Was ist ihr Auftrag an das Parlament? Die Europawahl zeigt einmal mehr, dass der Kontinent asynchron atmet. Während in Deutschland oder Frankreich Sozialdemokraten abstürzen, gewinnen sie in Spanien oder den Niederlanden. Während im krisengeschüttelten Österreich die Konservativen gewinnen, verlieren sie in Deutschland.

Was alle eint, ist der Wunsch nach Klarheit und Wahrheit, nach der starken Führungsfigur und der Eindeutigkeit in der Aussage. Dort, wo Parteien nicht in der Regierungsverantwortung sind, wird diese Heilserwartung auf sie projiziert. Das erklärt den Erfolg der Grünen in Deutschland, aber auch überall sonst in Europa. Parteien in Regierungsverantwortung wirken dagegen schneller verbraucht, leer.

Mit diesem Wunsch nach Führungsstärke verbindet sich das trügerische Bedürfnis nach Einfachheit und Verständlichkeit von Politik. Das Tempo der politischen Entscheider hält nicht mehr Schritt mit dem empfundenen Problemdruck. Bei den Populisten entlädt sich diese Spannung in den Rufen nach Zerstörung und Zerschlagung. Die moderaten Wähler, ihnen gehört die Mehrheit, hoffen auf neue Parteien. Hier liegt die Ursache für die große Umschichtung, welche die Parteienlandschaft jetzt erlebt. Darin steckt auch eine Chance. Freilich sollte sich niemand vormachen, dass ein Farbenwechsel die Gesetzmäßigkeiten in einer Megademokratie wie Europa verändert. Paragraf eins heißt: Du musst Kompromisse schließen. Paragraf zwei: Demokratie dauert und ist mühsam. Gerade in Europa. Paragraf drei: Europa hat neben dem Parlament noch ein zweites, gewähltes Machtzentrum, die Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Dorthin wandert nun alle Aufmerksamkeit, denn der Rat hat die schwere Aufgabe, die nationalen Interessen mit dem europäischen Wählerwillen in Einklang zu bringen und exakt jene Führungsfiguren zu generieren, die den Wunsch nach Klarheit und Wahrheit befriedigen können. Was sich als vermeintlich mächtiges Gremium präsentiert, ist dabei selbst höchst krisenanfällig. Während die Mehrheitsverhältnisse im Parlament keine Obstruktionspolitik der Nationalisten oder Populisten erlauben, ist der Rat besonders verwundbar. Es reicht ein Salvini, im schlimmsten Fall eine kleine Allianz der Zerstörer, um Europa zum Stillstand zu zwingen. Das Parlament weiß seit Sonntag: Es ist handlungsfähig, die Mitte hat gehalten. Der Rat muss diesen Beweis immer wieder neu erbringen.

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