Religionswissenschaft:Der immer schon war

Juden, Christen und Muslime
Im Dialog der Wissenschaften 500-1500

Koranfragment<NM1>,<NM> (Sura 68, 39-41), in Kufi-Schrift, mit roten Punkten als Vokalzeichen und goldenen Rosetten als Verszeichen.

(Foto: Österreichische Nationalbibliothek)

Jack Miles liest den Koran als Revision der Bibel. Deren reicher, bunter Erzählstoff wurde radikal vereinfacht. Wichtig war allein der Glaube an den einen und einzigen Gott.

Von Johann Hinrich Claussen

Manchmal liegt ein Thema so in der Luft, dass darüber zur gleichen Zeit an weit entfernten Orten fast identische Bücher geschrieben werden. Im vergangenen Jahr haben die deutsche Autorin Sibylle Lewitscharoff und der Exil-Iraker Najem Wali die Bibel mit dem Koran verglichen. Unter dem Titel "Abraham trifft Ibrahim" untersuchten sie, wie hier und dort gemeinsame "Heldinnen" und "Helden" wie Eva, Abraham, Moses oder Maria dargestellt werden. So richtig überzeugen konnte ihr Duett nicht, gleichwohl bescherte die Betrachtung der beiden heiligen Schriften aus zwei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln einige Anregungen über Verbindendes und Trennendes (SZ vom 27. 6. 2018). Vor einem Jahr veröffentlichte der Theologe und Sprachwissenschaftler Jack Miles in den USA ein sehr ähnliches Buch. Jetzt ist "Gott im Koran" auf Deutsch erschienen. Miles nähert sich dem Koran ebenfalls literarisch-vergleichend. Auch er will den Islam und sein Gottesbild dadurch besser verstehen, dass er die menschlichen Figuren betrachtet, die im Koran - und vorher in der Bibel - vorkommen. Es ist fast dasselbe Erzählpersonal wie bei Lewitscharoff und Wali. Doch gelingt es Miles besser, die entscheidenden Punkte zu treffen.

Seine beiden vorherigen Bücher waren dafür eine gute Vorbereitung. 1996 hatte Miles mit "Gott. Eine Biographie" für eine gewisse Aufregung gesorgt. Kann - ja, darf man eine Biografie Gottes schreiben? Natürlich kann man die Geschichte des Gottesbildes im Alten Testament nicht in das Entwicklungsmodell eines modernen Menschen pressen. Aber die Pointe dieses Titels lag eher darin, die biblischen Gottesvorstellungen aus dem starren Begriffsraster dogmatischer Systeme zu lösen: Gott hat eine Geschichte, und diese ist voller Überraschungen, Widersprüche und Brüche. Inzwischen ist Miles charmante Idee leider allzu oft kopiert worden. Jüngst hat ein Physiker sogar eine "Biographie" des Mondes veröffentlicht. 2001 erschien dann "Jesus. Der Selbstmord des Gottessohnes". Wieder gab es Kontroversen: Die Passion Jesu soll als Suizid Gottes zu verstehen sein? Wie immer man diese beiden Bücher von Miles auch beurteilt, in ihnen zeigte sich ein literarischer Sinn für die Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Abgründe der Bibel.

Der Koran nun erscheint bei Miles wie eine Bibelrevision. Er übernimmt den Erzählstoff der Juden und Christen, um ihn einer "radikalen Vereinfachung" zu unterziehen. Darin liegt eine prophetische Tat. Die Kreativität von Propheten besteht ja nicht darin, dass sie etwas bisher Unbekanntes verkünden würden, sondern sie wählen aus dem reichen, bunten Traditionsfundus, der ihnen vorliegt, das eine aus, was sie unbedingt angeht. Aus der konsequenten Konzentration auf dieses eine Traditionsstück entsteht dann etwas Neues. So haben der Prophet Mohammed und seine Schüler aus dem Judentum und Christentum das einzige genommen, was ihnen allein heilig war: den Glauben an den einen und einzigen, allmächtigen und barmherzigen Gott. Was ihnen problematisch erschien, ließen sie fort: den jüdischen Erwählungs- und den christlichen Erlösungsglauben. So entstand ein neues heiliges Buch von ungeheurer Geschlossenheit.

Die Bibel ist in Ordnung gebracht, ihre Spannung aufgehoben

Folgt man Miles auf seinen Streifzügen durch den Koran, fragt man sich jedoch, ob dem Koran die Vereinfachung der Bibel nicht allzu gut gelungen ist. Denn er ist kein Erzählwerk mehr. Allah, der sich hier ausspricht, weiß nichts von dramatischen Konflikten, unvermuteten Wendungen, jähen Aufstiegen oder Abstürzen zu berichten. Ihm ist suspense ebenso fremd wie eine Entwicklung seiner Figuren. Alles, was an Adams Sündenfall, Abels Ermordung, Noah und der Sintflut, Abrahams Versuch, seinen Sohn zu opfern, oder Marias Mutterschaft abgründig oder geheimnisvoll sein könnte, ist im Koran bereinigt. Wo die Bibel widersprüchliche, erstaunliche, erschütternde Geschichten erzählt, verkündet der Koran immer nur dieselbe religiös-moralische Botschaft: Es gibt nur einen Gott, Mohammed ist sein Prophet, der Mensch soll sich ihm unterwerfen. So macht der Koran aus den deutungsoffenen Erzählungen der Bibel, die sich eben nicht auf einen theo-logischen Gottesbegriff bringen lassen, Lehr-Exempel der ewig gleichen "Moral von der Geschicht'".

Die Bibel ist hier in Ordnung gebracht, ihre Spannung aufgehoben. Zwar wird von Kennern häufig vorgetragen, dass der eigentliche literarische Reiz des Korans in seiner unvergleichlichen poetischen Sprache läge. Wer aber des Altarabischen nicht mächtig ist (wie der Verfasser dieser Zeilen), dem bleibt dieser Genuss versperrt. Stattdessen nimmt er eher am Eindruck einer erzählerischen Einebnung Anstoß.

Im Christentum steht der Gläubige Gott mit einer gewissen Freiheit gegenüber

Über den Gott des Korans kann man offensichtlich keine Biografie schreiben, selbst Jack Miles nicht. Denn Allah ist stets derjenige, der er immer schon war und sein wird: der absolut Absolute. Auch birgt er keine Paradoxien, die es auszuloten gälte. Das hat nicht nur literarische Folgen, sondern - ein Gedanke, der über das Buch von Miles hinausführt - wirkt sich auf das religiöse Selbstverständnis aus. Ein geschlossener Gottesbegriff wie der des Korans gewährt dem Gläubigen und seiner Gemeinschaft sicherlich eine feste Orientierung. Religion ist hier folgerichtig "Islam", also "Hingabe" oder "Unterwerfung". Einer Religion jedoch, die sich aus den Geschichten der Bibel speist, ist immer schon die Auflehnung gegen Gott eingeschrieben. Sie kann nicht glauben, ohne zu zweifeln, Gott nicht verehren, ohne ihn anzuklagen. In dieser inneren Gebrochenheit kann man eine Voraussetzung dafür sehen, dass der Gläubige seinem Gott mit einer gewissen Freiheit gegenübersteht.

Hat man das neue Buch von Miles zu Ende gelesen, kann man auf den Gedanken kommen, Koran und Bibel würden sich zueinander verhalten wie Glocke und Orgel: hier ein monumentaler Klangkörper mit nur einem, aber grandiosen Ton - dort eine kaum überschaubare Vielzahl von Registern an Stimmen und Stimmungen, hier erhabene, Ehrfurcht gebietende Monotonie - dort verwirrende, erregende Polyphonie.

Jack Miles: Gott im Koran. Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag, München 2019. 320 Seiten, 26 Euro.

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