Philosophie:Die fehlbare Vernunft

Seine Schrift "Zum ewigen Frieden" steckt in der UN-Charta, seine Vernunftkritik in der Wissenschaftstheorie, seine Ethik in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Eine Berliner Tagung erkundete Werk und Einfluss Immanuel Kants.

Von Franz Viohl

Mit Immanuel Kant und der Philosophie verhält es sich etwa so wie mit einem Buchstaben und einem Wort: Der eine setzt das andere voraus. Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" steckt in der Charta der Vereinten Nationen, seine Vernunftkritik in der Wissenschaftstheorie, seine Ethik in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Das macht eine Vermessung von Kants Werk und Einfluss heute nicht gerade einfach. Inwiefern ist der "Weltweise aus Königsberg" mehr als ein "Zitate-Steinbruch für Sonntagsreden"?

Danach fragte der Frankfurter Philosoph Marcus Willaschek auf einer prominent besetzten Tagung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Mit Blick auf das Kant-Jahr 2024, in dem die Akademie den 300. Geburtstag mit einer Neuedition des Gesamtwerks feiern will, suchten die Veranstalter bei der dreitägigen Debatte nach dem "europäischen Denker" in Kant. Kein schlechter Zeitpunkt so kurz nach der Europawahl, aber taugt der deutsche Idealist auch als Kommentator der Gegenwart?

"Für die großen globalen Herausforderungen, vor denen auch Europa steht, ist Kants Werk von einer Relevanz, die wohl von keinem anderen Philosophen erreicht wird", hieß es vollmundig in der Einladung. Maria Bering, die Kulturstaatsministerin Monika Grütters entsandt hatte, fügte hinzu, dies sei "heute wichtiger denn je".

Aber was heißt das? Eine Antwort darauf führt seit jeher über die drei Kantischen Fragen, machte die Hamburger Philosophin Birgit Recki deutlich: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Jeder Frage widmete Kant eine seiner "Kritiken" (der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft, der Urteilskraft), und alle drei Hauptwerke vollziehen eine "kopernikanische Wende", nach der nichts mehr war wie vorher.

Eigentlich müssten wir in diesen Tagen 231 Jahre Grundgesetz feiern

Epochal, so Recki, sei die Idee, dass alles Wissen sinnliche Erfahrung voraussetze, für die die philosophische Tradition vorher oft nur Geringschätzung übrighatte. Andererseits fragte Kant nach den Erkenntnisbedingungen und entdeckte Raum und Zeit als Strukturen menschlicher Wahrnehmung. Die Kant'sche Vernunftkritik ist nichts anderes als eine Selbstvermessung des Subjekts und seiner Fähigkeiten, ohne Leben und Gefühl auszusparen.

Überhaupt habe Kant sehr viel vom "gesunden Menschenverstand" gehalten, erklärte Jens Timmermann von der University of St Andrews. Der berühmte kategorische Imperativ - "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde"-, sei nichts anderes als die Umformulierung der Goldenen Regel. Das "Neue" sei die philosophische Herleitung aus rationalen Gründen. Damit sei Kant letztlich der entscheidende Vordenker der Menschenwürde, die er das "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" (1788) nannte. Eigentlich müsse man dieser Tage also nicht siebzig, sondern 231 Jahre Grundgesetz feiern.

Solche aktuellen Bezüge blieben jedoch Mangelware, über weite Strecken betrieb man klassische Kant-Exegese. Marcus Willaschek wurde konkreter. Der gegenwärtige Konflikt zwischen technokratischen Führungseliten und emotionalen Protestbewegungen in Europa zeige ja gerade die Spannung zwischen Vernunftvertrauen und Vernunftskepsis. Aber wie mit Salvini, Le Pen und Co. umgehen? Der Verweis auf Alternativlosigkeit sei sicher nicht die richtige Antwort, so Willaschek, denn für Kant ist auch die Vernunft immer "fehlbar und unvollständig". Gegen Fake News helfe letztlich nur das kritische Denken. Wer es sich dagegen in der Filterblase bequem mache, der werfe über Bord, was ihn eigentlich zum Menschen mache - die Kritik. Ohne sie keine Aufklärung, ohne sie kein Frieden und kein Rechtsstaat. Willaschek brachte auch Kants "blinde Flecken" zur Sprache. Für antisemitische und rassistische Bemerkungen könne auch seine Zeit nicht als Rechtfertigung herhalten. Kant sei nicht irgendein Zeitgenosse gewesen, und er habe nun mal "keine guten Gründe" für solche Irrtümer gehabt.

Dass Kant nicht nur Idealist, sondern auch Realist war, zeigte seine frühe Warnung vor der Umweltzerstörung, vor "menschlichem Unheil gegen die Natur", wie Volker Gerhardt sagte. Kant schlug zugleich eine "Balance der Mächte" vor, um Europa vor dem Krieg zu bewahren. Nachdem das 19. Jahrhundert über Kant als "greisen Träumer" spottete und dann in den Ersten Weltkrieg schlitterte, zog US-Präsident Woodrow Wilson Kants Friedensschrift bei der Gründung des Völkerbunds 1919 heran. Und lange vor Charles Darwin erkannte Kant in der Natur ein Zweckprinzip, das den "Bau eines Vogels, die Dünnwandigkeit seiner Flügel, die Stellung seines Schwanzes" erklärte, so Angela Breitenbach (Cambridge).

Was von Kant bleibt? Vielleicht der Versuch, Wissen, Moral und Ästhetik als System zusammen zu denken. Gut möglich, dass sich der Königsberger, der seine Stadt kaum verließ und dennoch Weltbürger war, heute Sorgen um den Zustand der Aufklärung machen würde. Vielleicht wäre Instagram für ihn ein wertloser Zeitvertreib. Aber wahrscheinlicher wären ihm die Bilder willkommene "Gegenstände der Anschauung", die er ziemlich gern studieren würde.

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