Harry Kane in der Champions League:Er schießt jeden Tag zwei, drei Tore

  • Ein englischer Fußballer, der ganz anders ist: Harry Kane ist die große Hoffnung der Spurs im Finale gegen Liverpool.
  • Der Stürmer leistet sich keine Skandale und schießt massenweise Tore - das macht ihn besonders.

Von Javier Cáceres, Madrid

Er schlafe "bestens", hat Mauricio Pochettino, der argentinische Trainer von Tottenham Hotspur, in diesen Tagen gesagt - von wegen Aufregung! Ein wenig Entspannung gönnt er sich allerdings doch. Er könne ja nicht "24/7", wie man in England sagt, also rund um die Uhr, an das Champions-League-Finale seiner Mannschaft gegen den FC Liverpool denken, das an diesem Samstag in Madrid stattfindet. Pochettino, 47, hat sich eine Serie heruntergeladen, die eigentlich "What/If" heißt, im Spanischen aber mit einem Titel kommerzialisiert wird, der gut passt: "Dilema!"

"Du musst bereit sein, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen ...", raunt eine Frauenstimme im Trailer. Pochettino muss in Madrid die Entscheidung treffen, ob er seinen Topstürmer Harry Kane von Beginn an spielen lässt - oder eben nicht.

Das Dilemma rührt daher, dass Kane seit April verletzt war. Seine Saison galt bereits als beendet, nachdem er sich im Viertelfinal-Hinspiel gegen Manchester City (1:0) am linken Sprunggelenk verletzt hatte. Citys Verteidiger Fabian Delph schlug an der Seitenlinie einen Ball nach vorn; als er mit dem Schussbein aufkam, lag Kanes Sprunggelenk drunter. Ohne Kane bot Tottenham einige der größten Spektakel dieser Saison: das irrwitzige Rückspiel bei City (3:4), als man in letzter Sekunde wegen des Videoschiedsrichters im Wettbewerb blieb.

Und die Last-minute-Wendung im Halbfinale bei Ajax Amsterdam, die wundersam war - und Kane wieder laufen ließ. Nach dem dritten Tor von Lucas Moura zum 3:2, das den Finaleinzug bedeutete, sprintete Kane über den Rasen, als hätte es die schlimme Verletzung des Bandapparats nie gegeben. Nun hat er sich definitiv zurückgemeldet: "Ich bin bereit!" Am Donnerstag soll er bestens trainiert haben - hinter verschlossenen Türen.

Für Pep Guardiola ist Kane der gefährlichste Gegner

Die aktuelle Lage Pochettinos erinnert an die Episode rund um den Atlético-Madrid-Stürmer Diego Costa, der vor dem Champions-League-Endspiel 2014 auf den letzten Drücker fit wurde - aber nach nur acht Minuten von Trainer Diego Simeone ausgewechselt werden musste. Real Madrid gewann das Finale. Pochettinos Dilemma wäre nicht so groß, wenn Kanes Kameraden ihn nicht so gut vertreten hätten.

Und es wäre kleiner, wenn Kane nicht Kane wäre: der beste Stürmer Tottenhams, der Kapitän mit der Nummer "10", der längst in einem Atemzug mit den größten Klublegenden genannt wird. Vor allem aber ist Kane "one of our own", wie die Spurs-Fans in jedem Spiel singen: "einer von uns", ein Eigengewächs, ein Fan, der einst im Stadion an der White Hart Lane stand. Er ist das Emblem eines Teams, das als erstes der Klubgeschichte das Finale dieses Königswettbewerbs erreicht hat.

Welche Bedeutung Kane, 25, für die Spurs hat, lässt sich an einer Bemerkung von ManCity-Trainer Pep Guardiola ablesen. Als er gefragt wurde, wer der größte Rivale im Kampf um den (schließlich von City gewonnenen) englischen Meistertitel sei, sagte Guardiola: "Die Mannschaft von Harry Kane, weil er jeden Tag zwei, drei Tore schießt." Pochettino war pikiert. Eine "Respektlosigkeit" sei das, zischte er. Als er Trainer bei Espanyol Barcelona war und sich mit Guardiolas Barça duellierte, habe er "nie von Messis Mannschaft gesprochen, sondern vom FC Barcelona".

Faktisch stimmt die Quote von zwei oder drei Toren pro Tag natürlich nicht, aber Kanes Treffsicherheit ist erstaunlich. Er hat in 181 Premier-League-Spielen 125 Treffer erzielt, war zweimal Torschützenkönig (2016/2017), kam in dieser Saison in 27 Ligaspielen auf 17 Tore. In der Champions League erzielte er fünf Treffer in acht Partien, unter anderem gegen den FC Barcelona. "Kane ist ein außergewöhnlicher Stürmer, der sich gut assoziiert, über ein gutes Kopfballspiel verfügt und im Strafraum entscheidend ist", sagte Barça-Trainer Ernesto Valverde.

Voraussichtliche Aufstellungen

Anstoß: Sa. 21.00 in Madrid, Estadio Metropolitano, TV: Sky & DAZN

Tottenham: Lloris - Trippier, Alderweireld, Vertonghen, Rose - Sissoko, Wanyama - Alli, Eriksen, Son - Kane (L. Moura). - Trainer: Pochettino.

Liverpool: Alisson Becker - Alexander-Arnold, J. Matip, van Dijk, Robertson - Fabinho, Henderson, Wijnaldum - Salah, R. Firmino, Mane. - Trainer: Klopp.

Schiedsrichter: Skomina (Slowenien).

Es dauerte seine Zeit, bis sich Kane im Klub seiner Kindheit und seiner Träume durchsetzte. Die White Hart Lane liegt nur 15 Gehminuten von dem Haus entfernt, in dem ihn seine Mutter einst zu den Klängen von UB40 als Baby durchs Wohnzimmer tanzte, wie sein Biograf Frank Worrall recherchiert hatte: "(I Can't Help) Falling in Love with You". Kane fiel als Bub erst mal bei einem Test von Tottenham durch. Er trug eine Zeit lang das Shirt des FC Arsenal (ein Frevel für jeden Spurs-Fan), wurde aber, weil zu dick, zum FC Watford weitergeschickt - und landete schließlich doch bei seinen Spurs.

Mit 16 Jahren erhielt er dort einen Ausbildungs-, mit 17 einen Profivertrag. Dann wurde er systematisch ausgeliehen, an Leyton Orient, Millwall, Leicester und Norwich City. Sein Werdegang erinnert an einen anderen Briten, der fast sein Nachbar war und als Jungprofi ebenfalls verliehen wurde: Manchester-United-Legende David Beckham, der nur fünf Meilen von Kanes Kindheitshaus entfernt aufwuchs, zur selben Schule ging und ihm später, als er längst bei United reüssiert hatte und zu Real gewechselt war, mal bei einer Veranstaltung der Chingford Foundation School den Arm auf die Schulter legte. Dieses Foto ist eine Ikone der englischen Fußballgeschichte. "Beckham war eine Inspiration für Harry", sagte Kanes Mutter später.

2014 debütierte Kane in der Premier League, unter Trainer André Villas-Boas. Doch erst unter dessen Nachfolger Tim Sherwood - einer der Spurs-Legenden, die Kane als Bub bejubelt hatte - , errang der Angreifer eine Art Stammplatz. Sherwood hatte Kane die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder er setze sich gegen die Sturmrivalen Emmanuel Adebayor und Roberto Soldado durch. Oder er, Sherwood, werde dafür votieren, ihn zu verkaufen. Dann wurde Sherwood entlassen, und es kam Pochettino, es stand also alles wieder zur Debatte. Denn als Pochettino die Arbeit aufnahm, hatte Kane 18 Prozent Körperfett und in puncto Ernährung die Laster eines 30-Jährigen.

Sein Trainer reizte ihn

Pochettino reizte Kane und formte ihn um. "Wir scherzen manchmal immer noch darüber, dass er mir mal sagte, ich könne der beste Stürmer der Welt werden", sagte Kane einmal. "Harry ist nicht explosiv. Aber er legt viele Wege zurück, hilft der eigenen Mannschaft und schüchtert den Gegner ein", schrieb Pochettino in seiner Autobiografie "Brave New World".

Er säuft nicht. Er raucht nicht. Er beleidigt niemandem.

Inzwischen ist Kane längst als Nationalspieler etabliert, seine eigene Biografie trägt den passenden Untertitel "England's Hero", Englands Held. Er gilt als idealer Kapitän, weil er sich anders als Wayne Rooney, einer seiner Vorgänger als Spielführer, nicht in Bordellen erwischen lässt oder vom Verband wegen rassistischer Ausfälle bestraft wird wie John Terry.

Im Gegenteil, Kane ist der Prototyp der neuen englischen Profis, die nicht rauchen, nicht ausgehen und vor allem: nicht saufen. Er lebt ein fast albern ruhiges Leben in Essex und zieht in trainingsintensiven Wochen in sein Zweitdomizil, weil das näher an Tottenhams Sportgelände liegt. Frankreichs Weltmeistertorwart Hugo Lloris rühmt eine weitere Tugend seines Klubkollegen Kanes - dessen mentale Stärke: "Er ist ehrgeizig. Er gibt sich nicht damit zufrieden, in jedem Spiel zu treffen. Er will mehr als ein Tor erzielen. Und er liebt diesen Klub, weil er aus der eigenen Jugend kommt."

Das ist derzeit wohl auch die größte Hürde für potenzielle Käufer. Real Madrids Präsident Florentino Pérez hat seine Fühler nach Kane ausgestreckt; die Zeitung El País schrieb 2017, Tottenham-Präsident Daniel Levy habe einen Preis von sagenhaften 350 Millionen Euro aufgerufen. Das Dreifache dessen, was Real für einen anderen früheren Spurs-Spieler bezahlt hat, für Gareth Bale. Vorerst gilt ein Satz von Kane, der aus jener Zeit stammt, als Manchester United ihn holen wollte: "Warum sollte ich diesen Klub, meinen Klub verlasen wollen?"

Die Treue hat sich gelohnt: Am Samstag steht er mit Tottenham im Finale. Und egal, wie Pochettino sein Dilemma löst: Ein Sieg bringt Tottenham den bislang wichtigsten Titel, weit wichtiger als den FA Cup 1991, als Kane noch nicht geboren war. Den Fans galt Kane immer als einer der Ihren, und das wird so bleiben.

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