Nahles-Rücktritt und Koalition:Vor dem Ende

Die SPD ist eine Milieupartei, die ihre Milieus verloren hat. Ihre Ära als Volkspartei ist vorüber. Die Kanzlerschaft wird bei der nächsten Wahl zwischen CDU und Grünen ausgefochten.

Kommentar von Kurt Kister

Auch wenn sie das nicht vorrangig wollte, hat Andrea Nahles mit ihrem Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin das Ende der großen Koalition eingeläutet. Die SPD wird in ein paar Monaten eine neue Chefin oder einen neuen Chef gewählt haben; dies wird mutmaßlich per Mitgliederentscheid stattfinden. Weil die Stimmung in der Partei so ist, wie sie ist, wird niemand an die Spitze gelangen, der dezidiert die Koalition mit der Union fortsetzen möchte. Außerdem wird wohl auch der anstehende Sonderparteitag ein Ende der großen Koalition fordern, mit oder ohne die schon beschlossene Bewertung (Evaluation) der Rolle der SPD in dieser Koalition. Die Landtagswahlen im September in Brandenburg und Sachsen, bei denen die SPD weitere Debakel erleben wird, werden diesen Gang der Dinge bestärken.

Fazit: Die große Koalition torkelt noch einen Sommer; dann ist Schluss. Vermutlich im kommenden Winter werden Neuwahlen stattfinden. Die CDU muss von sofort an eine Kanzlerkandidatin oder einen -kandidaten finden; die SPD eine Vorsitzende, einen Fraktionschef und vor allem sich selbst. Letzteres wird ihr nicht gelingen, und wer Kanzlerkandidat wird, ist bei den Sozialdemokraten ohnehin ziemlich egal, denn die Kanzlerschaft wird bei der nächsten Wahl zwischen Union und Grünen ausgefochten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ohne Neuwahl eine andere Regierungsmehrheit findet, ist gleich null. Möglich wäre nur Schwarz-Grün-Gelb, also ein Jamaika-Bündnis. Weder die derzeit überstarken Grünen noch die FDP werden dies wollen.

Aber ist das alles nicht nur "reine Spekulation", wie es Politiker gerne sagen, wenn sie etwas dementieren, was sie glauben, nicht zugeben zu dürfen? Nein, ist es nicht. Es ist eine eigentlich nüchterne Beschreibung der Lage. Nahles' Entscheidung hat diese Entwicklung nicht in Gang gesetzt; sie wird sie aber beschleunigen.

Keine größere politische Partei geht mit ihrem Spitzenpersonal so zerstörerisch und selbstzerstörerisch um wie die SPD. Die Tatsache, dass sie seit der Jahrtausendwende mit den kommissarischen Chefs bisher insgesamt zehn Vorsitzende hatte, ist nur ein Beleg dafür. Nahles' Rücktritt ist auch die Reaktion darauf, dass sie tief verletzt ist und dass es die Besserwisser in der SPD waren, die sie tief verletzt haben. Zwei der jüngsten Beispiele: Der Juso-Chef sagt öffentlich, ihn interessiere es "einen Scheiß", ob Nahles die richtige Parteichefin sei; die ernsthaft unerfolgreiche Vorsitzende der nahezu marginalisierten Bayern-SPD gibt Ratschläge, was die SPD im Bund zu tun hat. In der SPD wissen erschreckend viele ganz genau, wie es nicht geht. Wie es geht, wissen sie leider nicht.

Die SPD ist eine Milieupartei, die ihre Milieus verloren hat. Ihre Ära ist vorüber

Der SPD widerfährt in voller Härte, was manche Schwesterpartei in Europa schon erfahren hat: Sie ist zur Milieupartei ohne Milieus geworden; die Zahl derer, die SPD wählen, weil "man" eben SPD wählt, hat drastisch abgenommen, bei Arbeitern und Lehrern, bei Gewerkschaftern und bei jener Klientel, welche die digitalisierte Dienstleistungsgesellschaft repräsentiert. In diesem Sinne ist die sozialdemokratische Ära vorbei; die Grünen haben als Partei einen Teil des Erbes übernommen. Vieles von dem, was zu den Hochzeiten der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie spezifisch für die SPD zu sein schien, findet sich heute in fast allen Parteien. Die Vorstellung, man könne die SPD mit der bedürfnisprüfungslosen Grundrente retten, ist abenteuerlich. Nein, eigentlich ist sie nicht abenteuerlich, sondern leider typisch sozialdemokratisch.

Die Zeit der SPD als Volkspartei ist vorüber. (Vielleicht wird es in ein paar Jahren Fusionsgespräche zwischen SPD und USPD, also der Linkspartei, geben.) Die CDU hat mittelfristig wohl ein ähnliches Schicksal vor sich. Auch ihr Status als Partei, die für ein Drittel der Wähler attraktiv ist, erodiert. Wer das nicht glaubt, möge in Frankreich oder Italien die Reste der einstigen konservativen Volksparteien besichtigen. Dass die CDU in jeder Hinsicht von der SPD lernt, zeigt sich auch darin, wie die Partei mit ihrer Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer umgeht.

Weder Nahles noch Kramp-Karrenbauer sind strahlende Führungsfiguren. Das waren andere Parteichefs auch nicht. Aber die Bereitschaft, Leute, die sich mit all ihren Schwächen engagieren und exponieren, sehr schnell politisch hinzurichten, ist stark gestiegen. Das hat auch mit dem zum Teil toxischen Umgangston zu tun, der in der politischen Auseinandersetzung über das Netz nicht nur Rechten, Linken oder Narzissten Aufmerksamkeit garantiert. Gerade die Umstände von Nahles' Rückzug legen nahe, dass letztlich nicht der politische Stress, sondern die Verwundung der Seele den Ausschlag gab.

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SPD elections result in Aftermath of European Parliament elections, Berlin, Germany - 27 May 2019

SZ PlusAndrea Nahles
:In die Fresse

Sie war laut und provokant und nicht immer bequem. Nur wenige haben die SPD so verkörpert wie Andrea Nahles. Aber nur wenige standen zuletzt noch hinter ihr. Und doch scheint sie es noch im Abgang gut zu meinen mit ihrer Partei.

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