Zwangsräumung:"Das war nicht nur eine Wohnung für mich"

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Die Wohnung in Aubing war für Jessy W. ein Zufluchtsort. Wie es nun nach der Zwangsräumung weitergeht, weiß sie nicht. (Foto: Stephan Rumpf)

Wegen eines Hundes verliert Jessy W. ihre Bleibe - ihr erstes Zuhause nach einem Leben in Heimen und Notunterkünften. Ein Platz im Clearinghaus könnte ihr helfen, doch das Sozialreferat lehnt ab.

Von Anna Hoben, München

Als Jessy W. 23 Jahre alt war, lernte sie, was das ist: ein richtiges Zuhause. Damals unterschrieb sie den Mietvertrag für die Wohnung der Heimbau Bayern in Aubing, drei Zimmer, 63 Quadratmeter, Balkon. "Das war nicht nur eine Wohnung für mich", sagt sie, "es war mein allererstes Zuhause." Ihr Zufluchtsort, ihr sicherer Hafen, in dem sie sich geborgen fühlte. Nie hat sie irgendwo so lange gelebt wie dort.

Nun, zwölf Jahre später, hat sie ihr Zuhause verloren. Kündigung, Räumungsklage, Gerichtsprozess, Zwangsräumung - alles, weil Jessy W. einige Jahre lang einen Hund gehalten hat, einen Labrador-Mischling. Bekannte hatten sie darum gebeten, während ihres Urlaubs auf den Hund aufzupassen - und ihn danach nicht mehr abgeholt. Im Mietvertrag hieß es aber: "Der Mieter verpflichtet sich, keine Katzen und Hunde zu halten." Der Hund ist im vergangenen Herbst gestorben.

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Die Vermieterin zog die Räumungsklage trotzdem durch. Trotz aller Bitten des gesetzlichen Betreuers von Jessy W., der versuchte, einen Aufschub zu bekommen, bis sie in zwei Jahren ihre Ausbildung beendet haben würde. Und trotz eines psychiatrischen Gutachtens. Bei einer Zwangsräumung wäre mit einer Verschlechterung ihres psychischen Zustands zu rechnen, "mit einer schwerer ausgeprägten depressiven Verstimmung bis hin zu Suizidgedanken", heißt es darin. Das Landgericht München gab der Vermieterin in zweiter Instanz trotzdem recht. Ende April musste Jessy W. ihre Wohnung verlassen. Wie es weitergehen soll, weiß sie nicht.

Jessy W. hatte das, was man eine schwere Kindheit nennt. Von einer "erheblich belasteten Biografie" ist in dem Gutachten die Rede. Teils wuchs sie bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, teils bei einer Pflegefamilie, teils bei einer Tante, teils in verschiedenen Heimen. Immer wieder lief sie fort und lebte auf der Straße, so erzählt sie es. Sie landete in einer Mädchenschutzstelle, später in einer betreuten Wohngemeinschaft. Mit 17 Jahren begann sie eine Lehre zur Elektrikerin, die sie abbrach. Sie schlug sich irgendwie durch, arbeitete auf dem Bau. Zu jener Zeit lernte sie den Vater ihrer Kinder kennen, mit dem sie einige Zeit in Notunterkünften lebte. Als ihr Sohn geboren wurde, bekamen sie die Sozialwohnung in Aubing.

Heute hat Jessy W. zwei Kinder, zehn und zwölf Jahre alt. Seit sie Mutter ist, versucht sie, für sich und ihre Kinder ein gutes, geregeltes Leben aufzubauen. Doch 2015 kam die Wohnungskündigung, wegen unerlaubter Tierhaltung. Bis zur Vollstreckung des Räumungsurteils vergingen vier Jahre. Der Rechtsanwalt Tim King unterstützt Jessy W. als gesetzlicher Betreuer. Er kennt viele Fälle, die ähnlich gelagert sind, doch dieser ragt für ihn heraus. "Eine Zwangsräumung ist für jeden dramatisch", sagt er. Für Menschen wie Jessy W., der die Wohnung so viel bedeutete, sei es besonders schlimm. Dazu kommt die Situation auf dem Münchner Wohnungsmarkt, auf dem jemand wie sie keine Chance hat - und die Warteliste für eine Sozialwohnung ist lang.

Vom Vater der Kinder ist Jessy W. seit Jahren getrennt. Seit zwei Jahren macht sie eine Umschulung zur Schreinerin. Das Handwerkliche liegt ihr, die Ausbildung macht ihr Spaß. In Absprache mit dem Jugendamt hat Jessy W. zugestimmt, die Kinder für die Dauer ihrer Ausbildung in einem Heim unterzubringen. Sie hat dies getan, weil sie befürchtete, die Doppelbelastung nicht leisten zu können und ihren Kindern, die besonderen Förderbedarf haben, nicht gerecht zu werden. Sie selbst leidet an ADHS im Erwachsenenalter, zudem an Depressionen. Gleichzeitig will sie unbedingt ihre Ausbildung abschließen und arbeiten können.

Tim King hat deshalb versucht, Jessy W. zunächst in einem Clearinghaus unterzubringen. Clearinghäuser sind ein Baustein im städtischen Wohnungslosensystem. Eine Wohnung dort ist als Zwischenlösung gedacht; ein paar Monate, in Ausnahmefällen bis zu einem Jahr, dürfen Bewohner dort bleiben. Die akut wohnungslosen Bewohner werden von Sozialpädagogen betreut; es geht darum zu klären, wie jemand künftig wieder selbständig wohnen kann. Sieben Clearinghäuser gibt es in München, "mit insgesamt 211 Wohneinheiten und maximal 467 Bettplätzen", wie das Sozialreferat mitteilt. Der richtige Übergangsort für Jessy W., fand ihr Betreuer - bis sie ihr Leben neu sortiert hätte. Doch bei der zuständigen städtischen Stelle habe man ihm gesagt, eine Bewohnerin mit einer psychiatrischen Diagnose komme nicht in Frage.

Zur Praxis der Belegung in Clearinghäusern hat die Linke im Stadtrat vor kurzem eine Anfrage gestellt. "In letzter Zeit erreichten uns Berichte, dass Auslastung und Nutzung der einzelnen Projekte nicht transparent dargestellt werden", hieß es darin. Auch Tim King sagt, er habe beobachtet, dass in den Häusern mitunter mehrere Wohnungen leer stünden. Er glaubt, es solle vermieden werden, die Wohnungen zu belegen, weil die Bewohner oft zu lange blieben.

Der Einzelfall Jessy W. gleicht zurzeit einer Abwärtsspirale

Das Sozialreferat erklärt auf Nachfrage, dass eine Auslastung von etwa 90 Prozent angestrebt sei. Eine volle Auslastung solle "möglichst vermieden werden, um gewisse Kapazitäten vorhalten zu können, wenn Haushalte wohnungslos werden, die für die Unterbringung im Clearinghaus geeignet sind", teilt eine Sprecherin mit. 2018 habe die Auslastung zwischen 80 und 90 Prozent gelegen - das heißt, dass bis zu 40 Wohnungen leer standen. Ende des ersten Quartal 2019 seien dann mehr als 90 Prozent der Wohnungen belegt gewesen.

Um zu verhindern, dass Wohnungen im Clearinghaus lange frei stehen, während das übrige Wohnungslosensystem aus allen Nähten platzt, arbeite man permanent an den Schnittstellen. Wenn in Notquartieren oder Beherbergungsbetrieben ein Haushalt untergebracht ist, der für die Unterbringung im Clearinghaus geeignet erscheint, könne er umverlegt werden. In Clearinghäusern würden "gezielt Menschen untergebracht, bei denen aller Voraussicht nach ein Anschlusswohnen in regulären Mietverhältnissen zeitnah möglich erscheint", heißt es weiter vom Sozialreferat. Ob eine psychiatrische Diagnose ein Ausschlusskriterium sei, hänge vom Einzelfall ab. Im Vordergrund müsse das Thema Wohnungssuche stehen, nicht die psychische Problemlage.

Die Frage ist, ob sich das so klar trennen lässt. Der Einzelfall Jessy W. gleicht jedenfalls zurzeit einer Abwärtsspirale: Sie hat ihre Wohnung verloren, wegen eines Hundes, der mittlerweile gestorben ist. Sie hat ihre Kinder verloren, weil sie sich auf ihre Ausbildung konzentrieren wollte. Der Verlust der Wohnung hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Möglich, dass sie wieder in eine Notunterkunft muss, wie sie sie von früher kennt. Ihre Hoffnung aber hat sie nicht verloren - auch wenn sie keine Ahnung hat, was nun wird. "Es geht immer weiter", sagt sie. "Auch jetzt."

© SZ vom 03.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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