Klassik:Der Tod feiert das Leben

Braunschweig

„L’Invisible“ auf der von Marc Weeger gebauten Bühne im Staatstheater Braunschweig.

(Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture)

Ein Triumph mit Akkorden des Schreckens: Aribert Reimanns Oper "L'Invisible" beim Braunschweiger Festival für zeitgenössische Musik. Tatjana Gürbaca führte Regie.

Von Ekaterina Kel

Bei diesem Abend muss man von hinten anfangen. Applaus, Verbeugung. Der Komponist Aribert Reimann erscheint auf der Bühne, er legt die Hände zusammen, ist ganz und gar personifizierte Glückseligkeit, kommt nicht mehr aus dem Grinsen heraus. Seine erste herzliche Umarmung gilt der ebenfalls grinsenden Regisseurin Tatjana Gürbaca, die gerade meisterhaft gezeigt hat, wie sensible, kluge und zielstrebige, aber keinesfalls übergriffige Regie funktioniert.

Als Zweites umarmt der 83-Jährige die Sopranistin Jelena Banković, die mit ihrer besonders wohligen, an fließenden Honig erinnernden Stimme und der sprudelnden Energie das Geschehen auf der Bühne des Staatstheaters Braunschweig zentrierte. Danach dreht sich Reimann zu den Musikern des Staatsorchesters um, die hier auf der Bühne sitzen. Wenn er könnte, würde er sie vermutlich auch alle miteinander mit einer großen Umarmung bedenken.

Diese rührende Dankbarkeit gilt der zweiten Inszenierung seines jüngsten Opernwerks, "L'Invisible". Einer "Trilogie lyrique" nach drei kurzen Stücken des belgischen Autors Maurice Maeterlinck. Im Oktober vor zwei Jahren wurde "L'Invisible" an der Deutschen Oper in Berlin uraufgeführt. In Braunschweig erklang sie nun zum zweiten Mal vor Publikum und eröffnete das hiesige Festival für zeitgenössische Musik "Notes", welches das Theater unter Intendantin Dagmar Schlingmann und Operndirektorin Isabel Ostermann zum zweiten Mal ausrichtet.

Reimann fokussiert seine Musik auf ausufernde, expressive, dissonante Fließ- und Kriechlaute

Der Titel, "L'Invisible", also das Unsichtbare, deutet auf das, was uns alle irgendwann ereilen wird, aber selten zur Sprache kommt, auf den Tod. Reimann hat Maeterlincks faszinierende Gabe, dem Tod viel dramaturgischen Raum zu geben, ihn hautnah spürbar zu machen, aber immer in der Schwebe zu lassen, konkretisiert. Denn bei ihm ist der Tod gut hörbar. Akkorde des Schreckens bahnen sich im Laufe des Stücks immer wieder ihren Weg durch den ansonsten großflächigen, unterstützenden Charakter der Musik. Reimann hat achtsam komponiert, den sehr formgebenden Stimmen große Freiräume gegeben.

Der Generalmusikdirektor des Hauses, Srba Dinić, baut das musikalische Gemälde Stück für Stück auf. Im ersten Teil, in dem ein blinder Mann von seiner sterbenden Tochter, die ihm kurz vor dem Tod einen Enkel gebiert, ferngehalten wird, spielen nur die Streicher. Im zweiten Teil erzählen die Holzbläser vom traurigen Selbstmord einer jungen Frau. Die verschiedenen Klangfarben lassen feingliedrige, kammermusikalische Momente zu, sind aber durchtränkt vom selben Grusel.

Der dritte, längste und eindrücklichste Teil vereint alle Instrumente und verharrt zum Schluss in schrecklicher Drohung. Hier erinnert Maeterlincks "La mort de Tintagiles", auf dem der dritte Teil beruht, stark an sein Stück "Pelléas et Mélisande", das so großartig von Debussy vertont wurde. Auch hier gibt es ein mysteriös tödliches Schloss, warnende Symbolik, einen starken Sog des Unheimlichen. Reimann aber schiebt musikalische Assoziationen mit Debussy gleich beiseite, fokussiert seine Komposition auf ausufernde, expressive, dissonante Fließ- und Kriechlaute. Fast humoristisch, aber niemals spottend schiebt sich der außergewöhnliche Klang dreier Countertenöre (entweder in Boygroup-Look oder in bonbonfarbenen Tutus) zwischen die drei Teile.

Regisseurin Gürbaca setzt auf Konkretes. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die Erzählstruktur des komplexen Stücks so klar wie möglich vor dem Publikum auszubreiten. Deshalb verlangt sie ihren Darstellern viel emotionales Spiel ab, das sie mit den rhythmisch anspruchsvollen, zaudernden und oft unmelodischen Gesangspartien vereinbaren müssen. Jelena Banković zeigt besonders in der Rolle der Ygraine im letzten Teil, wie das geht. Gerade hat Ygraine ihren kleinen Bruder für immer an die unheilbringende Großmutter verloren. Banković steigt mit wütendem Blick auf die Bank in der Mitte der Bühne, legt größtmögliche Besorgnis in ihre Stimme, ballt die Fäuste und entsendet ihren für diese Rolle eigentlich zu lieblichen, aber gerade darum so passenden Sopran in die Stille. Ein ganz besonderer Moment von Intimität.

Der Tod lädt hier nicht zum Lachen ein. Reimanns und Gürbacas glückliches Lächeln direkt im Anschluss ist trotzdem ansteckend. Vielleicht ist es der lockere Umgang mit dem Thema. Videoeinspielungen des chinesischen Künstlers Yang Zhenzhong auf großer Leinwand sollen das wohl verdeutlichen.

Darin sprechen einzelne Menschen den Satz "Ich werde sterben" in die Kamera. Vielleicht ist es aber auch der dahinterschimmernde Ernst gegenüber dem Tod. Und das bedeutet auch, wie die Regisseurin Tatjana Gürbaca selbst sagt: "Das Leben zu feiern."

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