Österreich:Ein Übergang, der als Wohltat empfunden wird

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Brigitte Bierlein. (Foto: Ronald Zak/AP)

Die Expertenregierung in Wien muss aufpassen, nicht in die Niederungen des parteipolitischen Schlagabtauschs gezogen zu werden. Gelingt ihr das, kann sie stilbildend sein.

Kommentar von Peter Münch, Wien

Nichts wird in Österreich lieber gepflegt als Tradition und Beständigkeit. Doch nun hat sich das Land Hals über Kopf selbst zu einem Experiment gezwungen mit seiner neuen Expertenregierung - und die erste Überraschung ist, dass dieses Interregnum allen Unsicherheiten und Unkenrufen von einer drohenden Staatskrise zum Trotz weithin als Wohltat empfunden wird. Für die Übergangsregierung ist das ein guter Start, für die politische Klasse insgesamt ein Fingerzeig, dass aus dem Übergang durchaus Lehren zu ziehen sind für einen Neuanfang.

Gewiss hat das Wohlwollen, mit dem das Land auf die neue Regierung schaut, zunächst damit zu tun, dass zum Glück Welten liegen zwischen Heinz-Christian Straches rundum verlotterter Ibiza-Erscheinung und dem Auftritt der eleganten und eloquenten Ex-Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein als Bundeskanzlerin. Das baut auf, in Sachen Stil und Moral. Ganz grundsätzlich aber sind die Österreicher genervt bis angewidert vom politischen Ränkespiel, das ihnen bisher noch von jeder Regierung geboten wurde. Von einem Kabinett aus Fachleuten erwarten sie sich nun vor allem Sachlichkeit, Ehrlichkeit und Ruhe bei der Ausübung der Staatsgeschäfte.

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Allerdings ist es ein Irrglaube, dass sich diese Regierung allein im Kosmos der reinen Kompetenz bewegen kann. Auch sie wird politischen Zwängen und Pressionen ausgesetzt sein. Schon ihre Zusammensetzung nach Parteiproporz verweist darauf: Fast jeder der Fachleute lässt sich einer politischen Farbe zuordnen, und zum Gesamtpaket nach austriakischer Art gehört offenbar auch ein Burschenschafter mit Wehrsport-Erfahrung dazu. Zudem muss das Expertenkabinett im Windschatten des Wahlkampfs agieren. Die Parteien haben sich längst positioniert für den großen Streit, und wenn er schon nicht direkt in die Regierung hineingetragen werden kann, dann doch in jedem Fall ins Parlament.

Deshalb wird die neue Regierung aus den Reihen des Nationalrats auch sogleich mit Vorschlägen eingedeckt, was nun vordringlich zu regeln sei. Bierlein solle als Kanzlerin den Sumpf der Parteispenden trockenlegen, fordern die einen. Sie solle das von der FPÖ verhinderte Rauchverbot in der Gastronomie durchsetzen oder den von der alten Regierung erlaubten Zwölf-Stunden-Arbeitstag wieder abschaffen, erwarten die anderen.

Nur zum Teil sind solche Vorschläge mit dem ehrlichen Wunsch verbunden, dass eine Expertenregierung in übergeordnetem Interesse endlich Dinge voranbringen möge, die zuvor politisch blockiert waren. Oft genug jedoch steckt dahinter das Kalkül, auch die neue Regierung in die Niederungen des parteipolitischen Schlagabtauschs hinabzuziehen. Im Parlament herrscht nach der Auflösung der Koalitionsregierung ein freies Spiel der Kräfte, und das setzt auch reichlich destruktive Kräfte frei, die nun alte Rechnungen mit neuen, wechselnden Mehrheiten zu begleichen hoffen.

Angesichts dieser Gefahren wird die Übergangsregierung gut daran tun, sich aufs Verwalten zu konzentrieren und das Gestalten der im September zu wählenden neuen Regierung zu überlassen. In ihrem Fall liegt nach aufgewühlten Zeiten tatsächlich in der Ruhe die Kraft - und allein das kann stilbildend wirken für jede Regierung, die sich danach an den Experten messen lassen muss.

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© SZ vom 05.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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